Von Essen-Steele über Wuppertal bis zur Hölle: Im „Blutrausch Nordrhein-Westfalen“ mit Kerker

Kerker – so heißt das neue Solo-Projekt von Jonah Holzrichter (u.a. Lyschko). Picky hat Jonah bei deren Show in Wuppertal begleitet.

Letzten Sommer tritt Jonah Holzrichter zum ersten Mal als Kerker auf den Plan. Im Januar erschien via My Favourite Chords, dem Label, das sich unter anderem auch für Lyschko verantwortlich zeichnet, die Debüt-EP „Blutrausch Nordrhein-Westfalen“. Ein vorerst unerwarteter Anblick: gekleidet in komplett schwarz, von Tutu über Kniestrümpfe bis Stoffhörnchen, in der Hand eine rosa Kettensäge. Ein paradoxes Zusammenspiel zwischen Finsternis und Farbe, Ernsthaftigkeit und Absurdität. 

Um über das Zusammenspiel, aber auch die Ambivalenz zwischen diesen Polen zu sprechen, haben wir uns im Wuppertaler Stadtteil Elberfeld verabredet. Hier befindet sich über dem Jugendhaus im ersten Stock des ehemaligen Bücherschiff das LOCH. Selbst bezeichnet sich die Einrichtung als „Ort der spartenübergreifenden Kunst; des Austauschs von wilden Gedanken und Ideen.“ Jeden letzten Donnerstag des Monats wird hier unter dem Namen TUMULT ein Konzert mit anschließender offener Session veranstaltet. So auch diesen. Also begebe ich mich mit Sack und Pack – soll heißen Handy, Notizblock und einer angebrochenen Packung Hustenbonbons – mit der RB48 in die Stadt der Schwebebahn. Zu meinem Leidwesen stelle ich auf der Fahrt fest dass mir die Bahnhöfe von Opladen, Leichlingen oder Haan hätten verwehrt bleiben können. Nun gut, Trübsal Nordrhein-Westfalen. Bonjour Tristesse. Dass Trübsal und Blutrausch enger beieinander liegen, ja vielleicht sogar einander bedingen, soll erst später Gegenstand dieses kleinen Ausflugs werden.

Am LOCH angekommen, erreicht mich eine SMS von Jonah „Ich bin zu spät. Sorry 😬 Der Verkehr ist Hölle. Tut mir mega leid. Ich sag beim Loch Bescheid. Du kannst dann schon mal reingehen, wenn du magst.” Gesagt, getan. Beim Erhaschen eines ersten Blickes rücken eine Tischtennisplatte, eine Handvoll Sofas und Sessel sowie weitere Vintagemöbel in mein Sichtfeld. Würde man es nicht besser wissen, könnte man die Räumlichkeit auch für ein Café im Prenzlauer Berg halten. Anyways. Das Team serviert nämlich keine *insert here any type of überteuertes Gebäck*, sondern kuratiert und plant kulturelle Angebote. Gerade stecken sie noch mitten in den Vorbereitungen für ihren siebten Geburtstag, der dieses Wochenende gefeiert werden soll – an dem im Übrigen auch Kerker ein DJ-Set zum Besten geben wird. Während also drei Stunden vor Einlass noch rumgewuselt wird, trifft Jonah langsam ein.

Sitzmöglichkeiten im Überfluss; letztendlich entscheiden wir uns für einen der kleinen runden Tische, die noch vor der Bühne stehen. Aufnahme läuft.

„Ich glaube, auf eine Art ist es einfach so passiert“, erzählt Jonah von der Geburtsstunde Kerkers. „Ich habe immer mal wieder für mich versucht, alleine Sachen zu machen, über mehrere Jahre hinweg war das ziemlich all over the place. Da gab’s eine Phase, da wollte ich unbedingt Hip-Hop-Beats bauen, und dann wollte ich auch wieder was anderes machen. Es gab auch immer wieder ernsthafte Versuche, die sind dann aber meistens am Gesang gescheitert, weil es einfach immer zu cringe war, sich das danach anzuhören. (lacht) Irgendwann war es einfach mal so, dass ich einen Song geschrieben haben, bei dem ich nicht nur cringen musste, als ich ihn gehört habe und es mir nicht nur peinlich war, den anderen Leuten zu zeigen.“ (Anm. des Verf.: Besagter Song war „Sonne“, die Debüt-Single)

So entstehen die ersten Demos für die EP im stillen Kämmerlein, bis sie dem engsten Kreis anvertraut wurden: „Irgendwann hab ich’s natürlich Lukas aus der Band gezeigt, der letztendlich die Songs auch produziert und gemischt hat, und ihn gefragt, ob er Bock hätte, das mit mir fertig zu machen. Selena (Anm. des Verf.: MODULAR) war auch eine Person, die meine erste Demo gehört und mich gepusht hat, das weiterzumachen.“ Wenig überraschend also, dass MODULAR auch musikalisch ihren Weg ins Projekt fand und sich Kerkers „Herbstduett“ im Oktober vergangenen Jahres anschloss.

Sonne“ und „Herbstduett“, die beiden ersten Singles, ließen bereits Kerkers lyrische Essenz vermuten: skurril bis todernste Texte pubertären Herzbluts über unerwiderte Liebe, verpasste Chancen und die Trostlosigkeit des kleinstädtischen Alltags. Geschrieben hat Jonah für dieses Projekt zum allerersten Mal, vorher seien es bloß Fragmente gewesen. Ein Schritt, der zwar Überwindung gekostet, sich aber auch organisch in den Schaffensprozess eingegliedert haben soll. Vor allem aber habe es die eigene Sichtweise auf Texte geschärft und das Bewusstsein dafür sensibilisiert: „Es ist auf jeden Fall mega interessant, weil ich dadurch auch angefangen hab bei Musik, die ich selbst höre, mehr auf den Text zu achten und ihn auch schätzen zu lernen. Ich war vorher eher eine Person, die erst mal nur auf die Musik geachtet hat. Es hat mein Gehör dafür geöffnet.“ An dieser Stelle sei erwähnt, dass der Autorin dieses Textes die Zeilen Im nächsten Leben möchte ich ein Salzhering sein / Für fast 24 Jahre ungeöffnet schlafen aus der Feder Kerkers besonders zusagen.

Anstatt einen bestimmten Sound zu zitieren oder einem musikalischen Zeitalter nachzueifern, zeugt „Blutrausch Nordrhein-Westfalen“ von einer futuristischen Fusion aus allem, was Jonah geprägt und über die letzten Jahre hinweg begleitet hat. „Das war’s eben auch ein bisschen: dass ich sehr viel Musik höre und viele Einflüsse habe, die jetzt im Bandkontext nicht so stattgefunden haben. Es war dann bisschen der Versuch, alles zu kombinieren, was ich mag.“ Scheint gelungen. Der Kern des Ganzen sei allerdings ein ganz bestimmter Einfluss: Emo.

„Da waren viele Artists, die so aus dem Emo-Trap Bereich kamen, die dann in den letzten Jahren angefangen haben, auf postpunkige Instrumentals zu singen. Oder auch paar Hyperpop-Sachen, die aber auch so einen gewissen Indie-Kern haben, wo ich so gedacht habe: Geil, das vereint all die Sachen, die ich mag. Ich war irgendwann einfach bisschen übersättigt von diesem klassischen 80s Sound.“ 

– Kerker über die EP-Referenzen (u.a. American Football, Camping In Alaska, This Is Pointless) und den Grenzgang zwischen Hyperpop, Midwest Emo, Indie und Post-Punk.

Um auf das Intro dieses Textes zurückzukommen: Taucht man in Kerkers Welt ein, scheint der Balanceakt zwischen Betroffenheit und Memepotential erstaunlich. In einem Moment heißt es im Titeltrack „Der Regen schmeckt heut‘ irgendwie anders / Nach weggehen und dann nirgendwo ankommen“, damit im nächsten ein notdürftig animierter Werwolf im dazugehörigen Trailer die Single am Bahnhof Essen-Steele verkündet (oder besser gesagt verjault?). Allgemein manifestiert sich in Kerkers visuellen Auftritt eine Immanenz des Paranormalen. Egal, ob Werwolf oder Twilight Edit. Karten auf den Tisch: Wie memeable oder ernst ist es gemeint?

„Ich verfolge keinen größeren Plan bei den Sachen, die ich mache, das meiste entsteht einfach irgendwie. Und ich glaube, es ist einfach eine Art, wie ich viele Dinge sehe. Beides wahrzunehmen und schätzen zu lernen, durchaus eine Ernsthaftigkeit zu haben, aber es auch mit Humor zu betrachten, sich selbst vielleicht auch nicht zu ernst zu nehmen und einer gewissen Dramatik oder Kitsch hinzugeben, auch wenn man irgendwie das Gefühl hat, dass es bisschen drüber und albern ist. Ich glaube, deshalb passiert das auch sowohl in den Texten als auch im Visuellen. Mir ist es schon ernst, gerade ‚Sonne‘, wo die Lyrics oberflächlich betrachtet sehr albern sind, ist es ein ernster Kern, der aus mir rauskommt und spricht.“

Jonah lässt während unseres Gespräches öfter verlauten, dass Dinge einfach so passiert seien, dass keine größeren Gedanken dahinter stünden. Irgendwie beruhigend zu wissen, dass man manchmal gar nicht verkrampft konzeptionell an Dinge rangehen muss, um eine zusammenhängende Geschichte zu erzählen – der rote Faden ist man am Ende sowieso selbst. Der narrative Kleber, der alles zusammenhält. Kaum Kalkül und dennoch einen Sinn, beinahe wie ein Instinkt. Und manchmal muss man eben auch das Ironische durchdringen, um zu ihm zu gelangen.

Zum Hering mutieren: Sinnbildlicher könnte das Musikvideo zu „Finster“ die Skurrilität Kerkers nicht darstellen. Apathisch in der Badewanne liegen und dabei Akkordeon spielen. 

Während wir darauf warten, dass der Soundcheck losgehen kann, schweifen wir kurz ab und schwadronieren über NRW-Feelings. Jonah ist in Solingen geblieben, während es viele Freund*innen aus der Umgebung in die üblichen verdächtigen Großstädte verschlagen hat. Ich muss wieder an die Fahrt hierher und an die Bahnhöfe von Opladen, Leichlingen und Haan denken. Wir räsonieren: Vielerorts ist es kack-langweilig. Umso wichtiger, dass Räume wie das LOCH erhalten bleiben. Jonah holt noch weiter aus: „Es hat für mich jetzt keinen lokalpatriotischen Charakter oder so, dieser EP-Name ist auch eher aus so einer Albernheit entstanden. Ich würde schon sagen, dass Solingen dafür gesorgt hat, dass wir sauviel Zeit im Proberaum hatten, viel Musik gemacht haben und mit unseren Freunden rumgehangen und Parties gefeiert haben, weil es keine großartigen Alternativen gab. Irgendwann kam dann noch der Waldmeister ins Spiel und war für ein paar Jahre ein wichtiger Spot, aber gerade in unserer frühen Jugend war es der Proberaum und das, was wir uns selbst gemacht haben. Wenn ich in einer größeren Stadt, die mehr zu bieten gehabt hätte, aufgewachsen wäre, dann wäre ich vielleicht auch mehr unterwegs gewesen und hätte nicht so viel Zeit allein im Keller verbracht (lacht).“ 

Ich frage mich, ob es dennoch Momente gibt, in denen man sich subkulturell etwas abgekapselt fühlt. „Definitiv, ja. Man sieht, was in Hamburg und natürlich auch in Berlin gerade so abgeht und hat das Gefühl, da gibt’s eine Szene und mittlerweile kenne ich da auch viele Leute und frage mich oft, ob es geiler wäre, jetzt da zu sein. Aber andererseits ist der Lebensstandard da so hoch und ich habe mich gerade dazu entschieden, dass mir hier die Möglichkeit, ein eigenes Studio zu haben, in dem man immer rumhängen und Musik machen kann, wichtiger ist.“

„In dieser gottverlassenen Stadt / Es stinkt nach Pisse und die Sonne versinkt / In einem toten Meer aus Straßenbelag“

Kerker – Finster

Mittlerweile bleibt noch eine Stunde bis Einlass. Während Jonah „Do you believe in love after love” auf Autotune für die FOH-Person zum Besten gibt, nippe ich unterzuckert an meiner Rhababerschorle. Sound gecheckt, Fotos geknipst, Kippchen noch, dann los.


Wenig später gibt Kerker ein Set der Sorte kurz und schmerzvoll zum Besten. Subversive Performance, minimalistisches Set-Up. Ein neuer Song – der den entzückenden Arbeitstitel „In Kacke treten Type Beat“ trägt – feiert Live-Premiere. Die Haare hängen im Gesicht und verschlingen das Mikro fast, während die breiteste Hose Wuppertals über den Bühnenboden schleift. „Mag hier jemand Tocotronic?“, fragt Jonah in die Runde. Totenstille, bis sich endlich jemand erbarmt „Jaaaa!“ zu schreien. „Das ist gut, das nächste Lied ist von denen.“ So bekommen wir „Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“ von der Debüt-LP „Digital ist besser“ im Hyperpop-Gewand serviert. 

Dabei offenbart sich eine unerwartete lyrische Ähnlichkeit zwischen dem jungen Dirk von Lowtzow und Kerker. Zeilen wie Fahr doch mit dem Fahrrad in ein anderes Stadtgebiet / Sag ‚Hallo‘ zu einem Mädchen, das dich erst mal übersieht“ scheinen mit dem Einstieg in „Sonne“, der „Du lädst mich ein / Und ich steig auf, um wie der Wind zu dir zu fahren“ verlauten lässt, verwandt zu sein – wahrscheinlich wieder ein Zufall der Marke unbeabsichtigt und dennoch, oder gerade deswegen, gliedert sich das Tocotronic-Cover nahtlos in die Setlist ein. Nachdem alle Songs der EP gespielt wurden, markiert ein weiteres Cover den Höhe- und Schlusspunkt. „Jetzt dürft ihr euch schubsen.” Also schubsen wir uns zu „Doktorspiele“ von Alex C. und Yass. 

Unterm Strich bleibt das instinktive Gespür für ein unbeabsichtigt zusammenhängendes Bild irgendwo zwischen Posse und seelischer Bestandsaufnahme. Keine frisierte Kunst, stattdessen der Soundtrack für alle, die sich 2024 einen neuen Take on Emo wünschen. Kerker verschafft Abhilfe.

Kerker – „Blutrausch Nordrhein-Westfalen“ (jetzt anhören):