Ganz und gar nicht „mitleerenhänden“ stand er da: So war’s bei Edwin Rosen in Esslingen

Edwin Rosen (Foto: PickyMagazine)

picky Hannah war für euch beim ausverkauften Edwin Rosen Konzert im Komma Esslingen. Wie schön die Stimmung, die Crowd und vor allem die Show war, liest du hier.

Er ist das wandelnde Mysterium: Edwin Rosen. Der Mann ohne Alter, Herkunft und Wikipedia-Seite hat es ungewöhnlich lange geschafft, sehr ungreifbar im Internet herum zu geistern. Aus dem Nichts war da auf einmal seine erste Single “leichter//kälter”, die sich mittlerweile mit über 18 Millionen Streams schmückt. Ohne Promo. Immer mehr Singles folgten und dann war sie endlich da: seine erste EP, die den Titel “mitleerenhänden” trägt. 

Edwin Rosen tritt die Neue Neue Deutsche Welle los

Edwins Erfolg hat natürlich seinen Grund. Ausgecheckte New Wave-Instrumentals sind sein Signature Sound. Der “Edwin Rosen”-Stempel hat dabei das Prädikat “besonders wertvoll”. Nicht nur wegen besagter mal wummernder, mal flächiger Klänge, sondern auch wegen seiner unter die Haut gehenden Texte. Mit seiner Debüt-EP hat er ganz klar eine neue Sound-Ära eingeläutet: die Neue Neue Deutsche Welle, angelehnt an den Sound der 80er.

Hinter der beeindruckenden Zahl an Streams und den vereinnahmenden Songs steht ein unglaublich sympathischer, nahbarer Anfang 20-jähriger, der während seiner zweiten quasi-Hometown-Show in Esslingen immer wieder überwältigt ist. Überwältigt vom Fassungsvolumen der Crowd-Lungen, der ihn ins Scheinwerferlicht stellenden Handylichter und der bloßen Menge an Menschen, die an seiner Musik teilhaben wollen. 

Support-Acts, die sich sehen lassen können

Die beiden Support-Acts trafen gut eine Stunde lang schonmal Abriss-Vorkehrungen für Edwins Set. Luis Ake macht vor allem eins: Show. Mit dramatische Posen untermalt er seine Songs, die sich musikalisch irgendwo zwischen Schlager und Techno bewegen. Wie das funktioniert? Ich weiß es selber noch nicht so genau. Jedenfalls deckt er damit die wichtigen Themen ab: Liebe, Verflossene und “Frieden auf der Welt”. 

Aus Akes wildem Fiebertraum reißt uns die Walter Frosch Band und lässt auf andere Art und Weise träumen. Im Vordergrund der Instrumentals von Rune Dahl Hansen und Mike Saxer stehen vor allem E-Gitarre und flächige Synthies. Ein bisschen edwinrosig, aber dann doch irgendwie gar nicht. Ein bisschen verträumt, aber dann doch irgendwie aufs Maul. Traumhaft aufs Maul quasi.

Walter Frosch (Band) und Luis Ake heizen die Menge in Esslingen ein. (Fotos: picky Hannah)

Noch Mensch oder doch Honigkuchenpferd?

Kaum betritt Edwin auch nur die Bühne, dreht das komplette Komma Esslingen am Rad. Und Edwin fängt an zu grinsen, als ihm 40% des Publikums seinen Namen und 20% “Ich will ein Kind von dir!” entgegenschreien. Spoiler: Er wird nicht nicht mehr aufhören zu grinsen. 

Keine zwei Sekunden läuft das “Verschwende deine Zeit”-Instrumental an und schon ist der Lautstärkepegel kurz vor Anschlag. Eines muss man sagen: So inbrünstig, lautstark und textsicher habe ich selten eine Crowd singen hören. Die ganze Show lebt von der Symbiose aus schreienden Fans und schreiendem Edwin. Denn immer wieder hat auch er seine Ausbrüche und brüllt uns entgegen: “Sag’ mir, komm, bist du allein? Oder bist du bei ihr?” Fair. Würde ich auch gerne mal in ein Mikro brüllen. 

Esslingen verliert nicht seine Kraft

Noch leicht außer Atem erklärt Edwin, dass der Track “1119” gesprochen “eins eins neunzehn” heißt. Alle jubeln. Und weiter geht die wilde Fahrt. Die Show fühlt sich an, wie eine Achterbahnfahrt. Eine von der Art, die man immer und immer wieder erleben will, auch wenn es zwischendurch mal überfordernd ist und man nicht weiß, wohin mit sich. Auf und ab irgendwo zwischen befreiend und bedrückend. Passend dazu tanzen Edwins EP-Visuals, analoge Fotos und Videosequenzen von blinkenden Jahrmarkt-Fahrgeschäften, hinter ihm über eine Leinwand. 

Seelen-Stiptease

Mit seinem Danelectro Longhorn Bass und instrumentalen Ergänzungen vom Band steht Edwin mit nicht mal ganz so leeren Händen da und liefert auf ganzer Linie ab. Der Song, der nicht nur namensgebend für seine Debüt-EP, sondern auch für seine erste Headliner-Tour war ist schmerzlich schön. Eine verrückt verletzliche Ehrlichkeit umgibt den Newcomer und das auch, während er auf der Bühne steht. Mehr als ihn, den Bass und seine Worte braucht es auch gar nicht. Edwin Rosens Texte scheinen auf dem Papier simpel und sind doch irrsinnig vielschichtig. Irgendwo zwischen erschlagender Ehrlichkeit und lyrischer Genialität steht Edwin mit seinem Bass im bunten Strobolicht und schüttet sein Herz aus. Und so führt er auf der Bühne seinen Seelen-Stiptease vor.  

Mit schmerzerfüllter Stimme singt er vom vergebenen sich in Brand Stecken. Wie “die Sonne in [ihrem] Zimmer” brennt er für sie, für uns und selbst aus. 

Gebundene Hände und Nur ein Wort

Was darf auf Tour nicht fehlen? Ganz genau, Unreleastes! Und so “[sitzt Edwin] im Dunkeln und [schreit] die Sterne an”. Und nicht nur die, auch uns. Vor allem zwei Unterschiede machen sich bemerkbar. Erstens: Seine einst “leeren Hände” sind auf dem neuen Track “gebunden”. Und trotzdem ist der Song nicht verrückt verzweifelt sondern genau hingebungsvoll hoffnungslos. Zweitens: Das Instrumental knallt rein, aber richtig. So viel musikalischen Wumms hatte bisher kein Edwin Rosen-Song und man darf schon jetzt auf dieses Release gehyped sein. Ich bin’s jedenfalls. (Guter Song zum Mitschreien auch.).

Auf das dröhnende Neuwerk folgt ein altbekannter Klassiker – in der New Wave-Version. Ich möchte nie wieder etwas anderes hören als Edwins “Nur ein Wort”-Cover. Er macht sich den Song so zu eigen, als wär’s seiner und kurz gerät Judith Holofernes in Vergessenheit. Die Tatsache, dass Edwins Neuauflage so mitreißend ist, macht noch weniger nachvollziehbarer, was er uns vor Beginn des Songs erzählt: Auf einem Festival blieb die Crowd nach Edwins “Und jetzt alle!” vor dem letzten Refrain still. Dafür gibt es nur eine plausible Erklärung: Schockstarre, weil überwältigt. Naja, Esslingen hat den Arbeitsauftrag jedenfalls verstanden und grölt voller Inbrunst mit. 

Verloren, verzweifelt, Vertigo.

“Halt’ dich an mir fest, lass’ mich nie mehr los” – ja, Edwin, wir hätten alle gern, dass der Abend niemals endet. Aber leider rückt mit jedem gespielten Track das Ende des Sets näher. In rot-blaues Licht getränkt driften das Publikum, das Komma Esslingen und auch Edwin dreieinhalb Minuten lang in eine Parallelwelt ab. Die Hymne auf die Benommenheit legt sich wie eine ein bisschen zu schwere Daunendecke über uns und lässt uns so “vergessen, wer [wir sind]”. Wie in Trance tanzen und singen wir uns allen Schmerz von der Seele. Verloren, verzweifelt, Vertigo. 

Schmerzliche Schlaflosigkeit

Kurz vor der Zugabe gibt’s noch einen neuen Song, den ein Drittel des Publikums schon jetzt mitsingen kann. Auf die Erkenntnis “Jede Nacht lag ich wach” folgt ein trotziges “Und du hast nie an mich gedacht, 21 Nächte wach”. Und einmal wieder schafft Edwin es, seine Verzweiflung in einen Mantel des befreit Seins zu hüllen. Sie scheint ihn stärker zu machen. Und das zeigt sich auch in Edwins Performance. Voller Leidenschaft, Inbrunst und Energie singt er ins Mikro und freut sich über jede und jeden einzelnen, der schon vor Release den Refrain mitschreit. “21 Nächte” wird vielleicht das nächste “leichter//kälter”, aber ich kann mich auch täuschen.

Frieren, Marmelade, Himbeereis

Den Abschluss macht “leichter//kälter”, der Song, der Edwin Rosen zu dem Phänomen gemacht hat, das er heute ist. Das macht sich auch am Lautstärkepegel des Publikumsgesangs bemerkbar. Edwins Gesang geht fast in dem der Crowd unter. Und irgendwie ist das auch ein bisschen schön. Grinsend und zufrieden steht er da und ich kann in seinen Augen die Überwältigung erkennen. Bevor Edwin als Zugabe noch einmal “leichter//kälter” anstimmen wird, spielt er noch ein Cover, das er sich gänzlich zu eigen macht: “Marmelade und Himbeereis” von Grauzone. Ein Song, der ihm viel bedeutet, wie er erklärt. Darauf folgt vielleicht der schönste Moment des Abends: Hunderte funkelnde Handylichter schwirren wie etliche Glühwürmchen durch die Luft und erhellen Edwins sichtlich von Freude erschlagenes Gesicht. Als dann noch ausnahmslos alle im Chor mitsingen ist es geschehen: Der Gänsehaut-Moment des Abends ist passiert. Verstärkt wird er von der zweiten Ausgabe von “leichter//kälter”, die so gar nicht repetitiv, sondern als logisches Ende des Sets daherkommt.

Unterm Strich…

Mein Fazit? Ich bin erschlagen. Wie ein einzelner Künstler ohne Band, mit nur einem Bass und Backing Tracks vom Band eine Location so zu seinem Eigen machen kann, ist und bleibt mir ein Rätsel. Dazu kommt natürlich Edwins Herzlichkeit, Ehrlichkeit, Verletzlichkeit. Eine Mischung von “-keiten”, die ihresgleichen sucht. Texte, die mitten ins Herz treffen, eine Freude auf Künstlerseite, die jede Zelle meines Körpers zum Strahlen bringt und eine Crowd, die Edwins Freude weiterträgt und in Energie umwandelt haben das zweite Konzert von Edwin Rosen im Komma Esslingen zu einem ganz besonderen gemacht. Hört die Musik dieses wunderbaren Musikers, Menschen. Ihr werdet es nicht bereuen.