Wenn der Schmerz zur Muse wird: Die Kraft von Lore Vains neuem Album „Agony The Muse“

Lore Vain (Alle Bilder im Beitrag: Guillaume Giret)

Die Bedeutung von Rockstar nimmt neue Formen an und eine davon ähnelt der Kontur von Lore Vain. Geprägt von starken Emotionen und kratzige Gitarren hat die Künstlerin neue Musik geschaffen, die nun morgen erscheinen wird. Auf der Platte, die den Namen „Agony The Muse“ trägt, streckt sie uns gekonnt die Zunge entgegen – und ihr Herz, blutend und pulsierend, ebenfalls.

Als ich an einem Abend vor nicht allzu langer Zeit mit Freundinnen zusammensaß und wir uns eine Flasche Wein teilten, sprachen wir darüber wie wir begonnen hatten das Interesse an den Geschichten männlicher Künstler zu verlieren. Wir lasen Bücher, die Bestsellerlisten füllten und fragten uns nach wenigen Seiten wieso sie das taten. Wir suchten uns zwischen den Zeilen von Liedern, die als Klassiker galten, aber wir fanden nichts. Da existierte eine Sehnsucht nach anderen Stimmen und diese wuchs mit jedem Schluck aus unseren Gläsern. Kurz darauf erreichte mich das zweite Album der Musikerin Lore Vain. Während ich mich durch die Ansammlung von Songs hörte, dachte ich zurück an die Konversation und es wurde klar, dass „Agony The Muse“ einer der Dinge sein könnte, die uns gefehlt hatten.

„Please don’t suffocate my heart
I wanna rest, I need to rest in your arms
When you look at me now, I see your scars talking“

Lore Vain – Look At Me

Der Titel allein erzählt schon viel darüber, wie die Musik wohl entstand. Dass Schmerz eine, wenn nicht sogar die ertragreichste Inspirationsquelle sein kann, wissen viele, die künstlerisch tätig sind. Er wird unweigerlich zur Muse, um ihn verarbeiten zu können. So wiederholt Lore Vain im Opener immer wieder „It’s over“ – als ob sie sich selbst daran erinnern will, indem sie es ausspricht. Dies soll nicht heißen, dass einen nun vierzig Minuten Traurigkeit erwarten, gespiegelt in weichen Mollakkorden. Während sie in „Rebel“ zeigt, dass sie auch genau solche Songs schreiben kann, bildet das Album ein diverse Stimmungsbild von all den Emotionen, die man in einem schmerzhaften Prozess durchläuft. Vor allem ausgedrückt in kratzigem, wütendem Indie-Rock.

Man merkt, dass „Agony The Muse“ ein Werk ist, bei welchem sie selbst auch die Rolle der Produzentin übernommen hat. Jeder Sound steht auf sicheren Beinen dort wo er hingehört, umspielt ihre Stimme auf die Weise, wie sie es wohl nur am besten wissen kann. Trotzdem ist Lore Vain keine Einzelgängerin – neben ihrer guten Freundin und Bandkollegin Chet Franco hat sie ebenfalls den Musiker Máni Orrason mitmischen lassen. So hört man ihn sogar auf „Look At Me“ eine Strophe singen, womit der Text noch mehr wie ein intimes Gespräch zwischen zwei Menschen klingt, die versuchen Nähe zu zeigen ohne sich zu verletzen. Der Song beginnt dementsprechend soft und doch schlängelt sich irgendwann eine raue Gitarre dazwischen, die sich wie ein roter Faden durch das komplette Album zieht.

Denn die Künstlerin versteht genau, wie sie das Instrument einsetzt und welchen Effekt sie damit erzielt. Während sie in „Control“ davon spricht die Kontrolle zu verlieren, welche sie sowieso als ihren Feind ansieht, scheint das Solo mit off-key Akkorden dies nur allzu gut zu unterstreichen. Plötzlich wirkende Soundausbrüche scheinen bewusst platziert und geben der Musik Kraft. In „Agony The Muse“ existiert keine Hemmung davor, zu viel, zu laut, zu emotional zu sein – etwas mit dem insbesondere weibliche Personen zu ringen haben. Lore Vain legt ihr angeknackstes Herz auf den Tisch. Sie will, dass man hinsieht, dass man hört und spürt wie sie sich innerlich fühlt. Vielleicht auch in der Hoffnung, dass jemand über ihre Geschichten stolpert und sich darin wiederfinden kann wie schon lang nirgendwo anders.

Lore Vains zweites Album „Agony The Muse“ erscheint am 01.09.2023 – wer schon vorher einen Eindruck bekommen mag, kann noch spontan heute auf das Releasekonzert im LARK Berlin gehen!