Watt en Schlick 2022 im analogen Rückblick – ein musikalischer Strandurlaub

Alle Fotos im Beitrag: Hannah Bechmann

Drei Stages mit direktem Blick auf den Nordsee-Strand, das kann nicht jedes Festival von sich behaupten. Das Watt en Schlick-Fest findet fast irgendwo im nirgendwo statt – fernab von ÖPNV und Handynetz. Aber wer braucht das schon, bei so einem Line-up? Wir haben uns für euch in den Digital Detox geworfen und Ende Juli den musikalischen Kurzurlaub genossen.

Unkomplizierte Anreise dank guter Beschilderung? Check! Vorfreude wegen grandioser Acts gleich am ersten Tag? Check! Für Watt und Schlick angemessenes Schuhwerk? Joa, könnte besser sein. Aber auch das ist spätestens nachdem Betterov den ersten Song anstimmt egal. Aufgewärmt hat uns vorher Moglii in seiner Yoda-Mütze mit ein bisschen „Organic Electro“.

Mitsamt seiner (absolut genialen) Live-Band rockt Betterov uns so sehr in seinen Bann, dass wir gar nicht bemerken, wie wir immer mehr Teil des Watts werden. “Ein wahres Wunder ist das, aber irgendwie ist es auch egal”, um es mit Betterovs Worten zu sagen. “Viertel vor Irgendwas” bekommen wir dann aber doch ein wenig “Angst”, unsere Füße nie wieder vom Boden lösen zu können. Hat dann am Ende zum Glück doch noch geklappt, ein Glück. Wie Verrückte gehen nicht nur die Jungs auf der Bühne, sondern auch wir alle davor ab und schnell wird klar: Betterov hat die Gabe, eine Energie zu erzeugen, wie es nur ganz Wenige können

Frösteln und Feiern

Durch die Danger Dan-Crowd kämpfen wir uns zur Nahrungsaufnahme und treffen: Edwin Rosen. Vielleicht der herzlichste Mensch, den die Welt je gesehen hat. Einen netten Plausch und einen Burrito später bereiten wir uns mental darauf vor, was noch kommen wird: Der Abschluss unseres Freitags. Edwin Rosen. Morgens um 1:30 Uhr. 

Ein Ätna-Set und mehrere Regenschauer später stehen wir unterkühlt und durchnässt vor der “La Mer”-Stage. Da kann man schon mal ins Zweifeln kommen. Gedanken wie “Warum stehe ich noch hier und liege nicht im warmen Bett?” oder auch “Wo habe ich mein verdammtes Regencape gelassen?” schießen uns in die Köpfe. Aber kaum betritt Edwin die Bühne sind Sorgen, wie Schlafmangel und nasser Hoodie, passé.

Edwin Rosen, das Honigkuchenpferd

Ich habe an anderer Stelle schon einmal beschrieben, wie Edwins Shows sich anfühlen. Um es kurz und prägnant noch einmal zusammenzufassen: Balsam für die Seele und glückerfüllend bis zum Gehtnichtmehr. Und das war auch bei seinem Auftritt auf dem Watt en Schlick nicht anders. In seiner gewohnten Honigkuchenpferd-Manier strahlt der Neue Neue Deutsche Welle-Wunderknabe uns entgegen. Und einmal wieder beweist er, dass er mit allem, nur nicht “mitleerenhänden” dasteht. Umringt von alten Stehlampen, gehüllt in mal rotes, mal blaues Licht und den treu ergebenen Danelectro Longhorn Bass in der Hand. Da sind sich die Seele aus dem Leib schreien und tanzen, bis der Pulli wieder trocken ist, vorprogrammiert.

Start in den Tag mit Nura

Eine Mütze Schlaf später holen wir uns bei Nura unsere Energieladung für den Samstag ab. Die ehemalige Hälfte des SXTN-Duos beweist mit Blick aufs Meer, dass tanzbare Musik und direkte Messages sich nicht gegenseitig ausschließen. Moshen zur Forderung nach Fairness, die Rapperin und die Crowd beweisen, dass das geht. Und immer wieder kommt von ihr die rücksichtsvolle Aufforderung:

„Bei dem Song müssen sich alle anwesenden Kinder bitte die Ohren zuhalten.“

Nura

Ein Fast-Heimspiel für Kynda Gray

Weiter geht’s für uns bei (noch) blendendem Sonnenschein zu Kynda Gray. Der 25-Jährige dürfte einigen vom Feature-Song mit RIN, “Ayo Technology”, bekannt sein. Er selbst hat aber letztes Jahr sein (sehr gutes) Debütalbum “Der Teufel auf meiner Schulter sagt es wird alles okay” in die Corona-Welt gesetzt. Mit seiner Mischung aus Gesang, Autotune und E-Gitarre bringt er sogar die Middle Aged-Fraktion des Publikums zum Klatschen und beweist: Die weißer Cis-Mann Rap-Bubble kann auch lieb und selbstreflektiert. Vielleicht fühlt er sich aber auch deshalb so daheim in der WES-Crowd, weil er seine Heimatstadt Wilhelmshaven von seiner “Palette”-Stage aus sehen kann.

Die Ruhe vor dem Sturm

Auf Kynda Gray folgt ein weiterer hochkarätiger Act aus dem erweiterten RIN-Kosmos: Schmyt. Und die Crowd? Hat merklich Bock. Fehlende Textsicherheit wird durch Moshpit-Expertise wettgemacht und auch Schmyt merkt, wie viele andere Acts, an, wie unglaublich der Meerblick von der Mainstage aus ist. Dann wird’s ein wenig melancholisch, denn letztes Jahr auf genau diesem Festival spielte Schmyt seinen aller ersten Gig als Schmyt. Davon beflügelt springt er wie ein Flummi von einem Ende der Bühne zum anderen. Das Level an Kondition und Energie hätten wir auch gerne. Langsam setzt eine steife nordische Brise ein, ein Wunder ist es, dass Schmyt samt Band noch standhaft auf der Bühne stehen. Seine Haare weht es jedenfalls fast davon. 

Sich selbst auf die Schippe nehmend kündigt er den Song “Ich wünschte, du wärst verloren” an, mit: “Das ist so ein Song, bei dem ich ‘Und jetzt alle!’ sage.” Das Kommando versteht die musikhungrige Crowd und singt sich lauthals die Seele aus dem Leib. Und diesen Willen kann auch der langsam einsetzende Regen nicht stoppen. Ohne verbalen Seitenhieb lässt Schmyt den plötzlichen Wetterumschwung aber nicht stehen: “Irgendwie ist’s auch geil, weil man siebt so ein bisschen die aus, die man eigentlich nicht unbedingt gebraucht hätte. Ihr seid schon krass, mit euch macht es am meisten Spaß!” 

Und daraufhin beendet Schmyt gerade noch rechtzeitig sein mit Paul Albrechts Drum-Soli gefülltes Set.

Es kommt wie es kommen musste: Unwetter. Zwei Stunden lang bangen wir um das Paula Hartmann-Set. Und dann: Erleichterung, es geht weiter!

Party-Rap und Techno-Beats als Stimmungs-Boost

Also ab ins Auto und schnell noch das Ende des Dilla-Sets mitnehmen. Neben dem Überhit “photosynthese” gibt es auch einige Songs mit dem anwesenden Feature-Gast TimmyT auf die Ohren und wieder einmal zeigt uns ein Act, dass der Schlick an der “Floß”-Stage kein Hindernis zum Abgehen darstellt. Das Ganze nimmt solche Ausmaße an, dass der Steg zur im Wasser stehenden Bühne vor lauter tanzwütiger Menschen fast bricht. Dilla liefert mit ihrer Mischung aus Party-Lyrics, Techno-Beats und Power genau die richtige Mukke, um stimmungsmäßig wieder Fahrt aufzunehmen.

Paula Hartmann erwärmt uns und unsere Herzen

Paula betritt die Bühne, alle rasten aus. Friso lässt den ersten Beat anlaufen, alle rasten aus. Paula singt den ersten Ton, alle rasten aus. Da lässt sich schnell ein klares Muster erkennen: Ausrasten!

Wem nach Dillas Auftritt noch nicht warm genug wurde, der kommt spätestens jetzt ins Schwitzen. Voller Elan füllt die zierliche Paula Hartmann mit ihrer zu Tränen rührenden Stimme die Bühne. Textsichere Fans und ein hochmotivierter Friso am DJ-Pult machen das Bild komplett. Auch für Paula selbst ist der Besuch beim Watt en Schlick-Fest ein emotionales Unterfangen – ihren Schauspieler-Kollegen Lars Eidinger hat sie am Tag ihres Auftritts nämlich das erste Mal seit ihrem gemeinsamen Dreh zu Beginn ihrer Schauspielkarriere wiedergetroffen. Der spielt nämlich im Verlauf des Abends noch ein DJ-Set. Da kann sie auch ihr angeschlagenes Immunsystem nicht mehr halten. Und voller Euphorie verkündet sie: Der Release des langersehnten Hidden Tracks “Babyblau”, den es bislang nur auf der Vinyl zu ihrem Debütalbum zu hören gab, ist zum Greifen nah.

Mit Handbrot im Mund und Bilderbuch in der Ferne nimmt auch der zweite Festivaltag ein Ende und lässt uns mit Vorfreude auf das Finale zurück.

Endspurt mit JEREMIAS

Das Wochenende hat gezeigt: Niederschlag schlägt die WES-Crowd nicht nieder. Bei Mia Morgan und Nieselregen wird sich ein wenig warmgetanzt. Und je stärker der Regen wird, desto stärker wird die Tanzmotivation der Crowd! Dass die Besucher*innen nicht aus Zucker sind, haben sie die letzten Tage über jedenfalls bewiesen.

Bei JEREMIAS wird das ein letztes Mal so richtig auf die Probe gestellt. Mit jeder Ansage und jedem Song wird der Regen stärker. Durch und durch durchnässt macht abfeiern aber gleich noch mehr Spaß. Moshpit, Mitgesinge und Menschengetummel nehmen trotz des suboptimalen Wetters einfach kein Ende. Und das ist vielleicht der bezeichnendste Moment des Wochenendes. Und auch Jeremias merkt in seinen Ansagen immer wieder an, wie sehr die Band das wetterfeste Publikum zu schätzen weiß. Nach und nach kämpfen wir uns in die zweite Reihe vor und schreien uns die Seele aus dem Leib. So befreiend hat sich lange kein Konzertbesuch mehr angefühlt.

Auf dem Weg nach Hause nehmen wir noch das Bruckner-Set mit. Mukke, die sich nach Surf-Urlaub anfühlt trifft auf Nordsee. Passender könnte es wohl kaum kommen. Stimmung machen gehört zu den Stärken der Live-Band um Matti und Jakob Bruckner. Die beiden Namensgeber des Indie-Pop-Duos sind aber auch alles andere als ohne. Mit einer Hingabe schrammt Matti die Soli über seine Gitarre und singt ganz nebenbei noch die zweite Stimme daher. Währenddessen wechselt Jakob zwischen inbrünstigem Gesang und Bass-Action. Ein gelungener Abschluss unseres WES-Sonntags? Wir finden: Ja!

Urlaubsfeeling am Strand, ein gelungenes Line-up und ein gut aufeinander abgestimmter Time-Table ohne nervige Überschneidungen haben unsere Herzen erwärmt. Danke Watt en Schlick-Fest, hoffentlich bis nächstes Jahr!