Zwischen Intimität und Nostalgie: Der Nachbericht des Reeperbahn Festivals 2022

Reeperbahn Festival 2022 (Titelbild: Florian Trykowski)

Nach einer Weile Pandemie konnte das Reeperbahn Festival wieder zu seiner ursprünglichen Form zurückkehren. In Veranstaltungsstätten, die größtenteils über St. Pauli verstreut sind, spielten Newcomer*innen und bekannte Gesichter vor Menschenmengen – Schweiß, Tränen und Euphorie inklusive. Was dabei so alles passiert ist, erfahrt ihr hier.

Als ich im vergangenen Jahr in einer der Schlangen stand, die sich vor den Venues mit reduzierter Kapazität gebildet hatten, kam ich ein Gespräch mit einer eingesessenen Hamburgerin. Für mich war es das erste Mal auf dem Festival, ich wusste gar nicht was mich erwarten würde und schätzte das, was möglich war. Sie aber besuchte es schon seit Ewigkeiten, in ihrem Kalender war Ende September immer rot markiert. Nun standen wir dort, hörten wie ein gedämpfter Bass nach draußen drang und sie begann mir von den Zeiten vor der Pandemie zu erzählen. Wie man von Club zu Club schlenderte, kurz den Kopf hineinstecken konnte – um entweder hängen zu bleiben oder einfach zwei Häuser weiter zum nächsten Konzert zu laufen. Der Reiz lag darin, sich treiben zu lassen und dann aus Versehen das Spannendste zu entdecken, was die Musiklandschaft gerade bot. Sich ein bisschen in der Vielfalt zu verlieren. Für ein paar Tage am Stück vibrierte die Reeperbahn dort mehr, als sie es schon tat.

Eine gute Vorahnung machte sich breit, als ich vor ein paar Wochen nochmals nach Hamburg fuhr. Der Sommer hatte Festivals wieder zum Leben erweckt, die Spannung in der Stadt war nun deutlich zu spüren. Vielleicht auch weil Kraftklub auf Instagram mitteilte, am ersten Abend ein Straßenkonzert zu spielen. Wer zu dieser Zeit versuchte die Reeperbahn zu überqueren, musste sich schnell geschlagen geben. Die Chemnitzer standen auf einer kleinen Bühne inmitten eines Menschenmeeres, von dem die hinteren Reihen nur einen Hauch des Sounds mitbekommen haben müssten. Es wurde sich warmgetanzt zu alten Klassikern und für das neue Album, obwohl man eigentlich nicht auf der Stelle treten konnte. Dass Casper und Bill Kaulitz ebenfalls zu diesem Fest dazustießen, hätte man sich am Ende fast denken können. An dieser Stelle möchte ich auch mein herzliches Beileid an alle Bands aussprechen, die einen Slot um 19:30 bekommen hatten – der wahrscheinlich spärlich gefüllte Zuschauer*innenraum lag nicht an euch.

Kraftklubs Publikum © Marvin Contessi
Loyle Carner live © Christian Hedel

Der Mittwoch war danach noch nicht vorbei. Loyle Carner hatte seinen ersten Deutschlandaufritt seit langem im Stage Operettenhaus. Irgendwie passte es, dass man anstatt in einem Club voller Rauch auf roten Sesseln Platz nehmen durfte: Die Kunst des britischen Rappers wirkt teils wie vorgetragene Poesie, die gerade in so einem Saal funktioniert. Und das tat sie auch. Nur stand schon beim Intro, das sein DJ Rebel Kleff mit Plattendecks live kreierte, jede Person von ihren Sitzen auf. Dann betrat Carner die Bühne, strahlend und voller Energie. Was er hier fast im Alleingang ablieferte, ist beeindruckend. Die Texte seiner neuen Songs, die sich viel mit Rassismus und seiner Identität auseinandersetzen, sind noch kraftvoller live. Kein Wunder, dass die Menge am Ende lautstark für „One more song“ plädierte – und den bekamen sie auch. Ganz ohne Musik, diesmal wirklich wie ein Gedicht, erzählte er davon, wie er seinem Vater vergibt, der nicht für ihn da war. Wer ihm davor nicht schon komplett verfallen ist, war es spätestens an diesem Punkt.

Es ist kurios, dass es auf dem Festival nicht mehr Hip-Hop-Acts gibt, denn vielversprechende Stimmen existieren viele. Besonders hervorheben möchte ich BABYJOY, die den Sommersalon St. Pauli schon Donnerstagnachmittag komplett füllte. Im Rahmen der MaLisa Stiftung, die sich unter anderem für mehr Diversität in der Musikbranche einsetzt, performte die Rapperin mit Gelassenheit und Nahbarkeit vor einem jungen Publikum. Zwischendurch erzählt sie die Geschichten hinter ihren Songs, egal wie schmerzlich oder intim diese seien mögen. Da ist eine Wärme im Raum, die von ihr und den Zuschauer*innen ausgeht. Wenn man so hautnah mitbekommt, wie gerade weiblich gelesene Personen nun immer mehr Künstler*innen auf der Bühne vor sich sehen können, die so sind wie sie selbst, hat man doch etwas Hoffnung für die Zukunft.

BABYJOY © MaLisa Stiftung auf Facebook
Betterov & Friends © Christian Hedel

Der Höhepunkt fand jedoch am Freitag in der St. Michaelis Kirche statt. Ich quetschte mich mit vielen anderen auf eine der Bänke und sah mich in dem riesigen Bauwerk um – allein schon die Kulisse verlieh dem Ganzen eine Atmosphäre, die ich kaum beschreiben kann. Betterov hatte sich hier befreundete Künstler*innen und ein kleines Orchester eingeladen, um der Musik ein neues Leben einzuhauchen. Als er auf die Bühne kam, war die Aufregung spürbar, der Hall seiner Stimme stark. Diese musste sich erst in der Weite des Gebäudes einfinden, in all ihre Ecken gelangen und dann begann eines der schönsten Konzerte, das man sich hätte vorstellen können. Sobald ihn der erster Gast Novaa mit ihrem sanften Sound begleitete, wurde er auch sicherer in seinem Auftritt. Im Wechsel zwischen eigenen Songs vom bald erscheinenden Album „Olympia“ und denen der anderen Musiker*innen bekam das Publikum Duette in einer neuen Version, ganz stripped-down. Paula Hartmann brachte einen fast zum Weinen, Olli Schulz eher zum Lachen, die Mischung war perfekt. Diese Melancholie und Hoffnung, die Betterovs Musik in sich trägt, ging in diesem Setting direkt unter die Haut. Und die Zeile „Gott hat für das alles nur sieben Tage gebraucht, und ich finde, genau so sieht’s hier auch aus“ von „Dussmann“ in einer Kirche zu hören, hatte ebenfalls etwas.

Auf der Fahrt nach Hause musste ich wieder an die Frau aus der Warteschlange denken. Ich frage mich, ob sie dieses Jahr auch wieder da war, ob ich in den letzten Tagen vielleicht zufällig an ihr vorbeigelaufen bin. Gerne würde ich ihr sagen, dass ich jetzt weiß, was sie damals meinte. Dieses Herumschlendern durch die Straßen und In-den-Bann-gezogen-Werden von Musik, von der man es manchmal gar nicht erwarten würde. Das Reeperbahn Festival hat wieder gezeigt, wie viel besondere Stimmen es da draußen gibt, die auf eine Bühne gehören. Dieser Text hat nur einen Bruchteil davon einfangen können. Ich verlasse Hamburg mit einer volleren Playlist und einem noch volleren Herzen, der nächste September steht schon tiefrot im Kalender.

Einen kleinen Rückblick in Videoform gibt es hier: