Zinnschauer entführen uns in „Das Zimmer mit dem doppelten Bestand“

Zinnschauer, Das Zimmer mit dem doppelten Bestand, Review, neues Album

Was 2012 in einem WG-Zimmer auf St. Pauli in Hamburg begann, schlägt nun zum Jahresende 2020 ein weiteres Kapitel auf.  Das Duo Zinnschauer, bestehend aus Jakob Amr und Sjard Fitter, ist zurück. Mit dem mittlerweile dritten Release dieses Projekts wurde sich Zeit gelassen. Ganze sechs Jahre liegen zwischen dem Vorgänger- und Debütalbum Hunger.Stille und Das Zimmer mit dem doppelten Bestand. Auch wenn Zinnschauer über die letzten Jahre hinweg durch andere Projekte wie die Leoniden, die Jakob seit 2015 als Sänger verhaften durften, an den Rand der Aufmerksamkeit gerückt wurden, soll für alle Beteiligten klar gewesen sein, dass es sich lediglich um eine Pause handle. Die Pandemie scheint ihnen dabei in die Karten gespielt zu haben, das Projekt wieder aufflammen zu lassen. Das Ergebnis ist beeindruckend. 

Die Hardfacts to go

Das Zimmer mit dem doppelten Bestand erscheint, wie bereits der Vorgänger, auf Kapitän Platte und erzählt seine umfassende Geschichte auf 10 Tracks. Es wurde sich im Vorhinein bewusst dagegen entschieden, Singles auszukoppeln, damit das Album noch mehr als Gesamtkunstwerk wahrgenommen werden kann. Das Album bewegt sich irgendwo zwischen Märchenemo, den Begriff hat sich Sjard ausgedacht, Death-Folk und akustischem Screamo. Mal mehr orchestraler Indie, mal kommt es poppiger und melodiöser daher. Entstanden ist das Album zu Teilen in Kiel und in den Lala-Studios in Leipzig, wo das Album schließlich gemeinsam mit Magnus Wichmann seinen Feinschliff erhielt. 

Zinnschauer, Das Zimmer mit dem doppelten Bestand
Zinnschauer – Das Zimmer mit dem doppelten Bestand

Das Albumcover lässt bereits silhouettenartig erahnen, womit sich das Album auseinandersetzen wird. Es wurde das Gesamtbild eines Raums erschaffen, der einen gefangen hält, wenn man selbst zu taub ist, um aus diesem Zustand zu entfliehen. Im Grunde genommen machen Zinnschauer genau dort weiter, wo sie auf Hunger.Stille aufgehört haben. Kunstvolle Metaphern helfen dabei, sprachliche Bilder zu erzeugen, die sich direkt in das innere Auge einbrennen und einen mit den eigenen Gefühlen konfrontieren. Untermalt wird diese Konfrontation von musikalischen Ausbrüchen, die einen kurz aufschrecken lassen.

Mein Zimmer ist zu eng für doppelte Erwartungen.

Zinnschauer – Beim Laternenaustreten

Auf Das Zimmer mit dem doppelten Bestand sucht das lyrische Ich seinen Platz in der Welt und wird auf dieser Suche von Verantwortung, Verlust und Verunsicherung festgehalten. Es ist gefangen in diesem Zimmer, das ihm den Ausweg nicht gewähren mag. Es wirkt, als sei jeder Schritt nach vorne gleichzeitig einer zurück in den Ballast, der einen umgibt. Zinnschauer laden dazu ein, an diesem Kampf teilzunehmen und sich in Finsternis fallen zu lassen.

Erzählung und Motivik

Ich möchte an dieser Stelle davon absehen, jede einzelne Metapher oder Zeile unter die Lupe zunehmen und sie in ihre Einzelteile zu zerlegen. Dies würde der Atmosphäre und dem Tiefgang dessen, was auf dem Album gesagt wird, nicht gerecht werden. Es lässt sich unabhängig davon nicht vermeiden über Lyrik zu sprechen. Zinnschauer hat es schon immer geschafft, mit Mut zum Pathos die Gefühle, zu denen man sich ungern bekennen mag, aus- und anzusprechen. Einsamkeit und Sehnsucht, ebenso wie hoffnungsloses Verliebtsein und Verlust. „Wer will ich sein?“ wird sich als zentrale Fragestellung auf der Platte herauskristallisieren. Die Antwort Zinnschauers auf die Suche nach sich selbst: „Lass dir Zeit.“. Gleichzeitig bietet die Erzählung Hörer*innen eine warme Schulter zum Anlehnen in diesen kalten und kräftezehrenden Wintermonaten und flüstert mal lauter mal leiser du bist nicht allein.

Als Angelpunkt der Erzählung offenbart sich die sich wiederholende Motivik. Das rote Band, welches sich als Wegweiser durch die Geschichte schlängelt. Das Zimmer, anfangs mit alten Bildern an der Wand und dem markanten Schrank, später charakterisiert durch den kalten Betonboden und die weißen Wände. Nicht zu vergessen die Lilien, die einem als Symbol der Hoffnung immer wieder begegnen.

Die Puzzleteile fügen sich zusammen

Mit Das Zimmer mit dem doppelten Bestand liefern Zinnschauer die wohl spannendste Platte dieses Winters. Jeder Song ist ein Puzzleteil, das an das vorherige und kommende anknüpft. Vom Opener Linie im Sand bis hin zum großen Finale auf Sonnen im Gesicht, wo das Album in sich selbst aufgeht, ist jedes Wort und jeder Ton durchdacht. Zinnschauer ist weiterhin ein bestechendes Gefühl, mit dem man sich gezwungenermaßen auseinandersetzen muss. Das Gefühl, wenn man nachts betrunken von einer Party nach Hause kommt und anfängt alles zu hinterfragen.

Das Album taucht in bittersüße Melancholie ab: Der Soundtrack zu dem sich Punker und Vorstadtkinder in den Arm nehmen und schlussendlich den harten Weg zur Selbstakzeptanz einschlagen könnten.

Hier könnt ihr euch eine der limitierten Platten schnappen*

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