„Liebe in Zeiten des Neoliberalismus“: August August über Liebe und die Ethik der Zeit

Foto: Tim Holskey

Als die Promomail mit dem Betreff „August August Liebe in Zeiten des Neoliberalismus“ Ende Januar in mein Postfach flatterte, wurde ich direkt neugierig. Lange war es nicht her, dass ich Şeyda Kurts Spiegelbestseller „Radikale Zärtlichkeit“ verschlungen hatte, der mich auch noch lange nach dem Umblättern der letzten Seite beschäftigte. Der Albumtitel des Alternative-Indie-Pop-Duos August August versprach mir beim Öffnen der Mail eine künstlerisch-musikalische Verhandlung der Liebe in unserem kapitalistischen System. Recht sollte ich behalten. Im Interview sprechen Kathrin (Gesang, Bass) und David (Gitarre) über die Wertigkeit von Kunst und Liebe, Emanzipation, die Ethik der Zeit und besagtes Album.

picky Sofia: Hey, ihr zwei. Was würdet ihr an einem Donnerstag normalerweise tun, wenn wir nicht zum Interview verabredet gewesen wären?

Kathrin: Wenn keine Pandemie wäre, würde ich wahrscheinlich abends noch mit meinen Freund*innen in einen Club gehen.

David: Wahrscheinlich den Tag über Gitarre üben und dann Sozialsein. Zumindest sagt mir mein Inneres Ich gerade, dass ich wieder so sozial, wie möglich sein will. Ich will Menschen treffen.

Kathrin: Manchmal hat man donnerstags ja auch einen Gig.

David: Das war mal… (lacht)

Kathrin: Dave und ich sind ja auch wirklich Vollzeitartists. Ich bin nebenbei ja auch Schauspielerin. Wir sind jetzt nicht die Band, die nebenbei noch einen Bürojob hat oder so. Wir leben davon, dass wir bei August August oder in anderen Bands spielen. Dadurch ergibt sich natürlich, dass jede Woche bei uns anders aussieht. Aber momentan findet schon ein Großteil Zuhause statt. Man ist wirklich für jeden Termin dankbar, an dem man mal rauskommt – so wie mit dir heute. Allein den Kaffee mal an einem anderen Tisch zu trinken ist auch schon irgendwie viel wert.

picky Sofia: Nicht mehr lang, dann kommt euer Album raus. Wie geht es euch, wenn ihr daran denkt?

David: Supergut! Wir haben es gerade zum ersten Mal ausgepackt (deutet mit dem Finger auf das Regal vor uns, in dem eine Digipack CD steht). Wir haben jetzt erstmal ein paar CDs eingesteckt.

Kathrin: Wir sind mega glücklich, dass es jetzt da ist! Wir haben das Album schon zwei Mal verschoben. Auch wenn wir jetzt erstmal nicht damit touren können, versuchen wir, es uns nicht wegnehmen zu lassen, dass es endlich das Licht der Welt erblickt. Das Album ist schon sehr lange fertig. Wir freuen uns total, dass wir es endlich in seinem vollen Umfang präsentieren können!

David: Der Prozess war auch ganz anders. Die Platte, die wir davor gemacht haben, klingt auch ganz anders. Wir konnten diesmal weiser an alles rangehen, weil wir mittlerweile besser verstehen, wie bestimmte Prozesse beim Aufnehmen einer Platte funktionieren. Es hat sich auch innerhalb der Bandkonstellation viel verändert zum letzten Mal. Kathrin hat für das Album beispielsweise auch viel mehr Gitarre gespielt. Du spielst seit Corona auch viel mehr Gitarre, oder?

Kathrin: Ich spiel viel mehr, ja.

David: Das macht’s für mich, der ja eigentlich Gitarrist der Band ist, auch eigentlich voll schön. Man wiederholt sich ja auch immer wieder, da ist immer schön auch mal einen frischeren Ansatz und alternative Ideen reinzukriegen.

Kathrin: Also so autodidaktisch, wie ich Gitarre spiele, ist es auf jeden Fall sehr ungewöhnlich (lacht). Aber du kannst dich gut davon inspirieren lassen und das freut mich natürlich. Das ist total cool, weil wir uns jetzt gegenseitig unsere Kompositionen zeigen können. Ich kann an der Gitarre voll gut schreiben, weil ich nicht so viel darüber weiß. Ich habe nicht so einen Sensor, der sagt: „das ist langweilig, das kann man so nicht machen“. Ich zeig Dave dann meine Sachen und adoptiert das dann für Aufnahmen und unser Livespiel.

picky Sofia: Besteht die Gefahr, wenn eine Platte so lange schon rumliegt, Songs zu zerdenken? Ich kann mir gut vorstellen, dass es dann schwieriger ist den Moment zu fassen, in dem man sagt, dass es wirklich „fertig“ ist. Wie seht ihr das?

Kathrin: Ich habe voll Probleme das Kind rauszulassen, sozusagen. Wir haben wirklich bis zum letzten Tag, an dem Abgabe war, noch daran gearbeitet. Irgendwann muss man sich selbst auch sagen, dass die Kunst getan ist und es gut ist, dass es jetzt Leute zuhören kriegen. Aber je länger man selbst mit den Liedern ist, desto öfter erwischt man sich dabei, dass man die Datei nach ein paar Monaten wieder aufmacht und überlegt, wie man die Inspiration, die man in der Zwischenzeit gesammelt hat, noch dort unterbringen kann. Woran es uns wirklich nie mangelt, sind Ideen für die Produktion. Dann muss man sich auch mal sagen: „Ja, wirklich tolle Idee – aber nicht für dieses Lied! Dieses Lied hat schon viele schöne Ideen und 83 Spuren“ (lacht).

David: Ich glaube, der Begriff des „Fertigseins“ ist eh schwierig auf Kunst anzuwenden. Wenn man die Lieder zum Beispiel live spielt, dann hast du begrenzte Möglichkeiten und man muss erfinderischer sein, was die Fülle angeht, weil wir nicht mit Backing Tracks arbeiten. Ein Album ist immer eine Momentaufnahme.

Kathrin: Die Platte ist für uns kein alter Hut oder so. Es ist jetzt da und in diesem Moment. Deswegen haben wir auch schon fast jeden Song daraus live gespielt.

picky Sofia: Euer Album trägt den Namen „Liebe in Zeiten des Neoliberalismus“. An welchem Punkt ist euch klar geworden, dass man Liebe nicht getrennt von dem politischen System betrachten kann, in dem sie stattfindet?

Kathrin: Für mich ist das eine Grundbeobachtung. Aber es ist auf jeden Fall eine gute Frage, wann man sich das bewusst macht… Ich würde Dave und mich eher als reflektierte Personen bezeichnen, die sich in der Welt umgucken und sich hin und wieder Zeit nehmen, um Schlüsse daraus zu ziehen, was man sieht. Unser erstes Album „Sag du“ war eher selbstrefenziell. Es ging viel mehr um das Individuum und wie es in seinen Beziehungen klarkommt. Jetzt ist der Kreis, würde ich sagen, größer gezogen. Wir betrachten viel mehr unsere Zeigenoss*innen. Wir als Künstler erleben natürlich auch, dass Wertschätzung ständig in Geld gemessen wird, und die bleibt bei vielen aus. Wir kommen aus einer künstlerischen-akademischeren Blase, aber geben uns Mühe, auch andere Dinge zu sehen. Unsere Texte sind wie eine Bestandsaufnahme.

picky Sofia: Was macht denn das Schreiben von Songs zu einem probaten Mittel, diese Beobachtungen auszudrücken?

Kathrin: Vorausgesetzt ist natürlich immer, dass einen Musik so berührt, wie zum Beispiel uns beide.

David: Man reflektiert sich ja selbst in der Musik. Weil wir zum Beispiel Sessions meiden, in denen wir mit anderen zusammen schreiben, meine ich auf jeden Fall, dass wir da mit der größten Ehrlichkeit an die Sache gehen, die man haben kann. Ich glaube auf jeden Fall, dass es authentischer ist, wenn wir sagen, dass wir diese Probleme selbst aufgeschrieben haben und selbst kommunizieren. Das ist alles wir – durch und durch.

Kathrin: In einem anderen Interview wurden wir gefragt, ob wir uns als Teil einer Subkultur sehen – das würde ich schon sagen. Es ist vielleicht nicht diese Hamburger Subkultur aus den 80ern, die man vor Augen hat…

picky Sofia: Hafenstraße.

…Genau. Es ist zwar nicht diese Subkultur, von der uns unsere Eltern erzählt haben, aber man muss es mal so sehen: Wir sind eine Indie-Band und wir sind auf jeden Fall der Gegenentwurf zum Mainstream-Pop in Deutschland. Dazu stehe ich auch. Bei vielen Sachen, die im Mainstream als Durchhalteparolen für so einen Turbokapitalismus formuliert werden, bin ich raus. Dieses: „Alles wird gut, wenn wir tanzen, uns liebhaben und uns mit Farbe besprühen“ – no way. Wir formulieren Gefühle authentisch. Dazu gehört auch zu sagen, dass nicht immer alles geil ist. Insofern sind wir schon Teil einer Subkultur. Ich hoffe, dass Dave und ich mit unserer Musik paar Leuten aus der Seele sprechen. Einige Zeichen stehen dafür (lacht). Wir wissen natürlich, dass wir nicht die Mehrheit sind, aber im Grunde meines Herzens weiß ich auch, dass es schon gut ist, dass es Bands wie uns und die unserer Kolleg*innen gibt. Dass wir einfach da sind. Und dass wir da sind, wird immer schwerer. Viele geben auch auf, weil du eben am Ende auch als Band mit den Regeln unseres Systems konfrontiert wirst, das Relevanz nur in Zahlen misst. Genauso, wie am Ende deines Lebens deine Lebensleistung in Rentenpunkten gemessen wird – und das ist auf einer moralischen Ebene nicht okay. Es ist auch nicht okay, Kunst plötzlich nur in Zahlen zu bewerten. Genauso wenig ist es okay, Sportlern, die bei einer Olympiade Silber holen, zu sagen: „Joa, nur zweiter Platz“. Das ist nicht die Wertschätzung, die wir alle verdient hätten.

picky Sofia: Total, da gehe ich auf jeden Fall mit! In der Doku, die ihr zum Album auf YouTube veröffentlicht habt, sagst du, David, dass du Kathrins Art zu Texten besonders schätzt. Seht ihr euch ein Stückweit auch in der Verantwortung deutschsprachige Popmusik komplexer zu denken, als der Mainstream?

David: Wir sehen uns in der Verantwortung, uns nicht zu verbiegen.

Kathrin: Uns selbst gegenüber, oder?

David: Ja genau, was anderes war auch nie die Ambition. Am Anfang hat man vielleicht schon gedacht, was der ein oder andere bei einem Text von uns denken könnte. Von diesen Unsicherheiten sind wir immer weiter weggekommen. Wir machen das so, weil wir es so möchten. Wir sind uns selbst treu geblieben. So ist mein Gefühl zumindest.

Kathrin: Wenn ich ehrlich bin, können wir Musik auch gar nicht anders machen, wie wir sie machen.

David: Genau! Wenn wir’s anders machen würden, würde es sich falsch anfühlen.

picky Sofia: Der Albumtitel wirft für mich auch die Frage auf, warum das Lieben in Zeiten des Neoliberalismus schwerer fällt, als in anderen denkbaren Utopien.

Kathrin: Der Titel ist nicht so gemeint, als ob wir es besser wüssten. August August ist nicht die Antwort auf alle Fragen. Es geht erstmal darum zu sehen, wie unsere Welt aussieht. Und die nächste Frage ist dann: Wollt ihr das so? Wenn man sich dafür entschieden hat, dass man das nicht will, hat man unter Umständen oft auch nicht die Möglichkeit, es anders zu machen. Man ist immer Teil eines Systems. Dieser 365-Grad-Individualismus ist, würde ich sagen, auch irgendwo eine Utopie. Dass so eine Ökonomie der Liebe eingetreten ist, kennen wir gar nicht anders. Ich spiel im Theater zum Beispiel gerade Der große Gatsby. Der Fitzgerald -Text ist schon so viele Jahrzehnte alt und es geht auch darum, dass die einzige Chance, die eine Frau in dieser Gesellschaft hat ihren Status zu verbessern, reich zu heiraten ist. Was ist das, wenn nicht die absolute Ökonomie der Liebe? Stehen wir jetzt wirklich besser da? Der Druck der Selbstverwirklichung ist immens groß. Man vergisst dabei, dass nicht jedem jede Tür offensteht. Das ist auch ein Märchen. Das ist ungerecht. „Jeder ist seines Glückes Schmied“ ist der größte Zynismus. Ich will nicht mehr, dass man Kindern sowas sagt. Das ist meine persönliche Meinung, ich kann es natürlich nicht verhindern. Trotzdem macht es mich aggressiv.

picky Sofia: Kann ich voll verstehen. Als ich euren Albumtitel zum aller ersten Mal im Betreff der Pressemail gelesen hab, musste ich sofort an Şeyda Kurts Radikale Zärtlichkeit“ denken. Kennt ihr das Buch?

Kathrin: Nein.

David: Ne.

Kathrin: Ich schreib es mir aber sofort auf! (holt ihr Notizbuch hervor)

picky Sofia: Krass. Empfehle ich euch hiermit wärmstens. Ich erkenne da einige Parallelen zwischen dem Buch und eurem Album. Wenn man den Albumtitel jedenfalls sieht, kann man den sehr politisch lesen und interpretieren. In den Songs selbst hingegen muss man die politische Ebene oft eher raushören. Warum zeichnet ihr dort lieber ein weiteres Bild?

Kathrin: Erstmal freut es mich total, dass du es so empfindest. Für mich ist nämlich Kunst erst dann Kunst, wenn jemand die Kunst anguckt, den Song anhört, und all das mit rein gibt, was er mitbringt. Ich mag es gerne, wenn genug Platz für Interpretationen da ist. Jeder hat ja seine eigene Geschichte, die in unseren Songs Platz finden soll. Für mich bedeuten Lieder auch immer etwas Neues. Ich erlebe neue Sachen und plötzlich finde ich in alten Songs eine neue Facette. Seit ich ein kleines Grundschulkind war, bin ich mit Hamburger Schule und Tocotronic aufgewachsen. Besonders da habe ich gecheckt, dass diese Uneindeutigkeit in Texten eine richtig geile Atmosphäre schaffen kann. Ich finde Eindeutigkeit auch einfach langweilig. Ich glaube, dass man da dem Publikum etwas wegnehmen würde. Zum Titel nochmal: Ich habe jetzt tatsächlich schon einige Kommentare gelesen, zum Beispiel im Plattentests-Forum – da sind übrigens nur Männer…

picky Sofia: Plattentests und Laut.de-Foren sind eh sehr spezielle Orte.

Kathrin: …Das Album ist noch nicht mal da und die regen sich jetzt schon über den Titel auf. „Warum sind alle immer gegen Kapitalismus?!“ „Was wollen sie denn? Die DDR zurück?“ Und ich dachte mir nur so: Okaaaay, da haben wir den Finger wohl direkt in die Wunde gelegt. Leute, regt euch ab. Das ist einfach nur ein Titel. (lacht)

picky Sofia: Ich glaub der Mensch mag es einfach nicht, so etwas Intimes und Privates in einen gesellschaftlichen Kontext zu setzen. Viele haben dann bestimmt das Gefühl, man würde ihnen irgendwas wegnehmen. Oder sie verkennen, dass es miteinander zusammenhängt.

David: Ja, weil es für jeden sehr persönlich ist. Du kannst jeden Menschen fragen, was Liebe für ihn bedeutet, und wirst unterschiedliche Antworten bekommen. Gerade weil viele Leute so einen engen Bezug zu diesem Begriff haben, sind sie so getriggert.

Kathrin: Interessanter Punkt. Wir wollen ja alle irgendwie das Gefühl von Kontrolle. Liebe ist gefühlt der letzte private Bereich und wir sagen den Leuten jetzt, dass das System da auch drin hängt. Die Krake ist schon lange da. Da kann ich schon verstehen, dass man das nicht wahrhaben will. Aber gerade merken wir doch auch, dass die Wahrheit ist: Man hat so gut wie gar nichts selbst unter Kontrolle. Vielleicht ist es deswegen umso wichtiger, dass wir alle gut miteinander umgehen.

„Man kann sich nicht lieben, wenn man kein Geld hat / Man kann sich nicht lieben / Oder doch?“

August August

picky Sofia: Ihr hattet eingangs ja erwähnt, dass ihr auch abseits der Band künstlerisch tätig seid. David, ich habe dich letzten November zum Beispiel als Live-Mitglied in der Band von Pablo Brooks im Häkken hier in Hamburg gesehen. Wieviel von eurem Künstlerdasein abseits von August August fließt wieder in die Band?

David: Für mich eigentlich gar nichts.

picky Sofia: Kann man das wirklich so klar trennen?

David: Ich auf jeden Fall.

Kathrin: Man kann es irgendwie total trennen und dann auch wieder nicht. Man ist ja immer dieselbe Person. Die Sachen, die wir sonst machen, unterscheiden sich auch stilistisch sehr von August August.

David: Stilistisch sind da keine Überlappungen. Bei Pablo spiele ich ja zum Beispiel auch Bass und nicht Gitarre. Was man vielleicht mitnimmt sind Erfahrungen auf eher technischer Ebene. Nirgendswo ist man sich selbst so treu, wie in der eigenen Musik. Woanders ist es für mich eher wie ein Handwerk, weil von einem auch andere Dinge verlangt werden.

Kathrin: Bei August August sind wir die Kreativdirektoren – es wird nichts gemacht, was nicht unserem Geschmack entspricht. Niemand quatscht mit rein, außer wir beide. Ansonsten haben wir halt Skills und eine gewisse Ausstrahlung und ein Handwerk, das wir auch gerne für andere künstlerische Projekte zur Verfügung stellen. Natürlich sind wir immer dieselben Personen. Deswegen fließt bestimmt einiges ineinander, aber ich schreibe jetzt nicht andere Texte, weil ich Gatsby gespielt habe oder so. Ich würde sogar eher sagen, dass ich dadurch, dass ich mit August August mein eigenes musikalisches Projekt habe, mehr Selbstbewusstsein für andere Projekte gewonnen habe.

David: Ich es sogar umkehren und sagen: Ich spiele bei anderen mit, weil ich bei August August musikalisch immer das ausdrücken konnte, was ich wollte. Ich find das cool, wenn nischigere Stilmittel, wie wir sie benutzen, dadurch dann auch in poppigeren Kontexten stattfinden können.

„Ich bin hier, um dir zu sagen, dass ich es satt habe, immer nur vom Rand reinzurufen und nie gehört zu werden. Das ist, wie eine Rede auf der Autobahn zu halten, einfach sehr frustrierend ist das“

August August – Phase

picky Sofia: In dem Song „Phase“ singst du Kathrin darüber, dass du es satthast, immer vom Rand reinzurufen, weil sich das so anfühle, wie eine Rede auf der Autobahn zu halten. Verstehst du August August als Raum, in dem du dich ausdrücken kannst und gehört wirst?

Kathrin: Ja, auch. Ich versuche immer eine Gratwanderung hinzubekommen. Ich will nicht zu parolenhaft werden und den Interpretationsspielraum offenhalten. Manchmal denk ich mir, dass es aber auch okay ist straighter zu sein. „Phase“ ist ein Song, wo ich mir dieses Recht auch bisschen mehr rausnehme.

picky Sofia: Ein Song über den ich auch gerne sprechen wollen würde ist „Wahnsinn“. Darin heißt es: „Glaubst du immer noch daran, dass ein Fallender sich selbst fangen kann?“. Was müsste sich denn ändern, damit Fallende nicht darauf angewiesen sind, sich selbst aufzufangen?

David: Es ist für mich auch die Frage, wer den Fallenden überhaupt geschubst hat.

picky Sofia: Stimmt, die ist auch wichtig.

Kathrin: Für mich steckt da sehr viel drin. Manche Leute können sich selbst nicht so gut helfen, wie andere. Ich kann nichts von jemandem einfordern, was er wirklich nicht leisten kann. Da muss der Respekt da sein, eine gewisse Grenze auch einfach nicht zu überschreiten. Auf politischer Ebene kann man sich auch die Frage stellen: Wie sinnvoll sind eigentlich Hartz-IV-Sanktionen? Wie sinnvoll ist das für eine alleinerziehende Mutter? Welche Möglichkeiten hat die denn? Es ist eigentlich das, was Dave schon meinte: Wer hat sie eigentlich geschubst? Das Niedriglohnsystem. Das kann man auf so viele Ebenen übertragen. Jemand der gerade Depressionen hat, kann sich nicht zusammenreißen. Das ist auch wieder komplett zynisch, sowas zu behaupten. Für uns persönlich ist „Wahnsinn“ auf jeden Fall ein Lied über mentale Gesundheit. Ich finde es super, dass das Thema in einigen Blasen nicht mehr so ein Stigma ist, aber wenn man rauszoomt, sieht das Ganze schon wieder anders aus. In vielen Bereichen hat sich da noch nicht sonderlich viel getan. Man kann jemandem nicht guten Gewissens raten, dass er sich eine Tageslichtlampe kaufen soll, damit es ihm besser geht. Das ist keine Hilfe. Von einer Tageslampe lösen sich Probleme nicht in Luft auf. Auf einer rationalen Ebene fehlen einem auch manchmal die Argumente, um jemanden davon zu überzeugen, dass das Leben schön ist. Und das muss man auch anerkennen. Steile These: Vielleicht hat der Depressive auch einfach manchmal Recht, weil er die Aussichtslosigkeit geblickt hat. Die ist auf jeden Fall da. Es ist trotzdem menschlich, das Leben zu lieben – ich häng voll am Leben. Aber ich kann genauso verstehen, wer aufgrund der Verhältnisse traurig wird.

August August – Wahnsinn:

picky Sofia: In „Coda“ sagt ihr: „Es gibt eine Ethik der Zeit / Weil Zeit nicht immer und für jeden gleich vergeht“. Wie vergeht die Zeit aktuell für euch?

Kathrin: Ich bin jetzt an einen Punkt, wo ich doch ein bisschen traurig darüber werde, dass man sein Leben aufschiebt. Wir haben unser Album zwei Mal verschoben, andauernd werden Konzerte verschoben – man verschiebt alles. Nächstes Jahr dies, nächstes Jahr das. Manche Sachen kann man nicht verschieben, das macht mich total traurig. Für Kinder sind zwei Jahre damn viel. Der kleine Sohn meiner Freundin ist zwei Jahre alt und kennt Menschen nur mit Masken. Wir leben ja von den Momenten, die wir gemeinsam mit anderen verbringen. Wir sind einfach soziale Wesen. Und nicht Wesen, die in Terminkalendern leben, wo du einfach alles immer ein Quartal nach hinten kloppst. Leute brauchen Perspektiven. Zeit ist eben endlich. Für jemanden, der im Altenheim lebt und sich einfach nu freut, dass er wieder aufgewacht ist, ist das eine absolute Katastrophe, wenn du dieser Person sagst, dass hier Besuche erstmal nicht mehr erlaubt sind. Wenn du gerade Abitur gemacht hast und anfangen willst zu studieren, ein Abenteuer geplant hast, in eine neue Stadt ziehen willst – das ist so ein krasser Moment im Leben, den dir keiner zurückgibt.

picky Sofia: Ha, wem sagst du das.

Kathrin: Diese Pandemie ist ein so krasser Eingriff in Biografien. Wir können es nicht ändern, aber wir können anerkennen, dass wir alle sehr viel durchmachen. Und die Gewichtung dieser Anerkennung kommt mir persönlich zu kurz. Das ist die Ethik der Zeit für mich.

David: Momentan heißt es viel zu warten. Man macht sich viel mehr klar, was der Begriff „Solidarität“ in einer Gesellschaft bedeutet. Meine Eltern waren beide Wissenschaftler. Das fehlende Vertrauen in die Wissenschaft beschäftigt mich gerade viel. Und ich frage mich, ob wir unseren Beruf jemals wieder so ausüben können, wie früher. Außerdem vergeht kein Tag, an dem man Nachrichten liest und nicht das Gefühl hat, dass alles schlimmer wird. Für mich vergeht die Zeit sehr langsam, weil ich kein Ende sehe. Aber sie wird vergehen.

Blank Space à la August August

picky Sofia: Zum Schluss gibt es für euch einen Blank Space, in dem ihr noch loswerden könnt, was euch auf dem Herzen liegt.

August August: Stay soft.

„Liebe in Zeiten des Neoliberalismus“ erscheint am 25. Februar 2022. und kann hier bestellt werden.