Goodbye, Slacker Queen: Ilgen-Nur manifestiert auf „It’s All Happening“ eine neue Identität

Ilgen-Nur (Foto: Miriam Marlene)

Ilgen-Nur singt auf “It’s All Happening” von Sehnsüchten und Selbstfindung – gebettet in einen kalifornisch geprägten Sound.

Hamburg an einem Freitag um 19:04 Uhr, draußen dämmert es bereits. Drinnen wühle ich in meinem E-Mail-Postfach nach dem Promo Juke Box-Link, der mich zu Ilgen-Nurs neuem Album “It’s All Happening” führen soll. Exakt zwei Wochen sind es noch bis zum Release. Meine Erwartungen sind groß, “Power Nap” war ein treuer musikalischer Begleiter in Post-Adoleszenz-Zeiten. Ich soll nicht enttäuscht werden.

Ilgen gilt damals in der Musikszene und -Presse als Slacker Queen. Auf “It’s All Happening” verabschiedet sie sich von diesem Etikett und destilliert eine neue künstlerische Identität heraus. Download oder Stream. Ja, ich stimme den unten genannten Zugangsbedingungen zu. Einen Klick später zieht mich eine vom Laurel Canyon geprägte Soundwelt aus der blauen regnerischen Stunde heraus und setzt mich für knapp 30 Minuten in Kalifornien ab. 

Die ersten Töne auf “It’s All Happening” sind dark angehaucht, tragen jedoch zugleich etwas melancholisch Zuversichtliches in sich. Ilgens einst hoch gelobte Lässigkeit ist zur Gelassenheit mutiert – die Stimme warm und zurückgelehnt, aber bestimmt. Selten wurden das Düstere und Träumerische, beide Facetten ihres Songwritings, so mühelos miteinander verschmolzen. “Creeping over the canyon” singt Ilgen-Nur auf dem Opener “Lookout Mountain”, das Album ist ihr wahrgewordener Sehnsuchtsort, dokumentiert in Musikstücken.

Die Atmosphäre fürs Album ist damit gesetzt. “Purple Moon” knüpft direkt an besagte an: Das Musikvideo ist ein Zusammenschnitt aus mit dem Camcorder festgehaltenen Momenten zwischen den Hügeln der Küstenregion rund um Los Angeles. Highways, Palmen, ein weißer Mercedes: Ilgen-Nur hält einem die Autotür auf und lädt dazu ein, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. Ein Moment des Innehaltens und Teilhabens, während man Sonnenuntergänge durch eine leicht verdreckte Windschutzscheibe beobachtet. 

“Watching the world fade from a car seat / There is nothing I can do but long to change“

 

Das darauffolgende Stück “Sweet Thing” widmet Ilgen-Nur besagtem Mercedes – dem heimlichen Protagonisten des Albums, der sie beim Erkunden des Unbekannten (“The Unknown”) begleitet und über die “Red Rock Road” gebracht hat. “There is nothing I can do but long to change”: Es scheint, als würden Veränderungen bei Ilgen-Nur nicht mehr auf Widerstand stoßen, ganz im Gegenteil, sogar mit offenen Armen empfangen werden. Von diesem Sinneswandel zeugt auch der Sound der Platte, an dem Produzent Jon Joseph getüftelt hat. E-Gitarren spielen eine untergeordnete Rolle, stattdessen tauchen Klaviere und Synths im Soundbild auf, die der Produktion den notwendigen Sparke verleihen.

Sehnsüchte lösen Ängste ab

Während auf “Power Nap” der Rückzug ins eigene Schlafzimmer als Bewältigungs- und Vermeidungsstrategie gefahren wurde, wird auf “It’s All Happening” der Moment gelebt – selbst wenn man ihn noch nicht ganz einordnen kann. Wenn Ilgen-Nur “Nothing scares me more” singt, dann tut sie das in einer Dringlichkeit, die macht, dass man den eigenen Ängsten entwächst. Es geht um Veränderung; vor allen Dingen ums Loslassen. Ilgen ist nicht mehr die anfang 20-Jährige auf “Power Nap”, Laurel Canyon hat einen Anteil daran. 

From „I’ve never been to New York City“ to „Creeping over the canyon“: Ilgen-Nur lässt auf ihrem neuen Album ihr altes Ich zurück.

Mit jedem weiteren Track der Platte kommen die Reifen des weißen Mercedes langsam zum Stehen, die Fahrt durch Los Angeles und Umgebung endet mit der nachdenklichen Ballade „Windows Are Mirrors”. Ein letzter Blick aufs Panorama und Gedanke an die Orte, die in der vergangenen halben Stunde im Schnelldurchlauf an einem vorbeizogen. Zuhörer*innen werden nun aussteigen müssen.

Ilgen-Nur allerdings bleibt weiterhin Beobachterin ihrer Umgebung. Es gibt noch viel zu sehen vom Fahrersitz aus. Und wenn (Auto-) Fenster im Dämmerungslicht beginnen ihre Außenwelt zu reflektieren, bleibt eine bestechende Erkenntnis, besser gesagt Handlungsempfehlung:You are the things you want to be. Ein Leitsatz, dem Ilgen-Nur mit “It’s All Happening” auf imponierende Art und Weise nachgekommen ist.

„It’s All Happening“ erscheint Freitag, den 13.10. via Power Nap Records (Euphorie).

ILGEN-NUR „IT’S ALL HAPPENING“ TRACKLIST

(1) Lookout Mountain

(2) Purple Moon

(3) Sweet Thing

(4) The Unknown

(5) Red Rock Road

(6) Der Stern

(7) Dream Of Hell

(8) Momentary Bliss

(9) Star Light

(10) Windows Are Mirrors