FORWARD thematisieren auf „So Glad We’ve Almost Made It“ nackte Gefühle und verpasste Liebeserklärungen (Foto: Peter Sparkuhle)
Das KiezKultur Festival fand vom 21. bis 22. Oktober in Hannover statt. Den ersten Konzertabend füllte vor allem die Band FORWARD in der 60er-Jahre Halle mittels ihrer beeindruckenden Live-Präsenz mit Leben. Die Achterkombo, für die das KiezKultur nicht nur der Abschluss ihrer ersten Festivalsaison bedeutete, sondern darüber hinaus auch ein emotionales Heimspiel markierte, hat vor zwei Monaten ihre zweite EP “So Glad We’ve Almost Made It” veröffentlicht. Ich habe die Band am Festivalfreitag im Zuge dessen begleitet.
Willkommen in Hannover
Freitag, der 21. Oktober. Etwas übermüdet, aber voller Vorfreude begebe ich mich auf den Weg in die niedersächsische Landeshauptstadt. Zugegeben, meine Assoziationen mit Hannover sind nicht die allerberauschendsten. Dass der Fernsehturm am Hauptbahnhof für Nutzfahrzeuge eines großen deutschen Autokonzerns wirbt, ist wohl das Symbolbild dessen. Dieses Wochenende soll mir allerdings neue und vor allem hoffnungsvollere Perspektiven auf die Stadt eröffnen. Daran nicht ganz unbeteiligt ist die Band FORWARD, mit der ich am Nachmittag auf dem Faust Gelände, dem Anker- und Treffpunkt auf dem KiezKultur, verabredet bin. Dazu aber dann später mehr.
Die ca. zweistündige Fahrt im Metronom eröffnet mir die Gelegenheit nochmals in die kürzlich erschienene EP “So Glad We’ve Almost Made It” der Hannoveraner reinzulauschen, die Gedanken kreisen zu lassen und sie mit denen, die ich bisher auf meinen Notizzetteln festgehalten habe, abzugleichen. In Hannover angekommen ist meine erste Amtshandlung das Besorgen eines koffeinhaltiges Erfrischungsgetränks. Ehe ich Tim (Gesang, Gitarre) auf dem Faust Gelände abfange und wir Arne (Gitarre) im Backstage einsammeln, ist die Band noch intensiv mit Soundchecken beschäftigt. Es soll alles perfekt angerichtet sein für ihren Abschlussgig heute Abend. Wir suchen uns ein etwas ruhigeres Plätzchen, soweit es die Gegebenheiten erlauben, und ich fange an, die beiden mit Fragen zu löchern. Was hat sich seit unserem letzten Gespräch zu ihrer Debüt-EP getan? Was hat die Band in den vergangenen 12 Monaten gelernt und erlebt?
“Das klingt ein bisschen cheesy, aber wir sind als Band näher aneinander herangerückt. Wir haben die EP zusammen in einem Haus in Norddeutschland geschrieben, das wir für eine Woche gemietet haben. Auch wenn man aus der gleichen Stadt kommt, gemeinsam probt und viel Zeit miteinander verbringt, macht ja auch jeder irgendwie sein eigenes Ding. Aber da hatten wir dann nur uns, das hatte, glaube ich, auch eine krasse Auswirkung auf das Endprodukt”, erzählt Tim. Arne hebt vor allen Dingen die Weiterentwicklung im Sound hervor, die die Band durchlaufen habe: “Auf ‘So Glad We’ve Almost Made It’ haben wir versucht, noch organischer zu klingen. […] Wir haben eigentlich alles so 70s-Style mäßig aufgenommen und das passt auch ganz gut zum Inhalt der EP, die, im Vergleich zur ersten, nochmal ein krasses Stück intimer ist.” Für dieses Vorhaben war es essentiell, wie Arne auf Nachfrage weiter ausführt, die große Bandkonstellation noch besser als vorher einzusetzen, indem man vor allem die Bläser stärker hervorhebt. So ist auf “So Glad We’ve Almost Made It” kaum ein Synthesizer zu hören.
Genau das ist es, was FORWARD für mich besonders spannend macht. Sie sind mehr als eine klassische Indie-Band mit Dreier- oder Viererbesetzung und wissen diese Karte klug auszuspielen. Bei einer in die Band mit hinein integrierten Bläsersection liegt die Frage nach einer möglichen Jazz-Erziehung nicht gerade fern. “Wir haben bei uns auf jeden Fall in der Band Leute dabei, die sehr stark Jazz-lastig sozialisiert sind”, bestätigt Tim. Dazu zählen insbesondere die Jazz-Studierten Malte (Tenorsaxophon) und Ruben (Altsaxophon), die auch die Bläsersätze in den Stücken komponieren.
Nicht nur die Soli, die die Bläser in der Band live und auf Platte abfeuern sind bemerkenswert, mindestens genauso beeindruckend ist es, Ruben, Malte und Colin (Trompete) dabei zuzusehen, was für derart tighte, spielfreudige Multi-Musiker sie sind. Selbstverständlich gilt das für alle in der Band, wobei Ruben (eigentlich Alt-Saxophon) besonders hervorzuheben ist. Live wechselt er zwischen einem Alt- und Baritonsaxophon hin und her. Je nach Song und Bedarf. Das hat schon was. Wenige Stunden später soll ich Zeugin dieses Spektakels in der 60er-Jahre Halle werden.
Live ist einigen Bandmitgliedern ihre Jazz-Affinität also auf alle Fälle anzusehen, doch wie viel davon lässt sich in eine Indie-Band transportieren? Arne weiß die Antwort darauf: “Wir versuchen das mit einzubringen, aber man muss dann auch einsehen, dass das nur zu einem gewissen Grad in diesen Kontext passt. Die anderen, die bei uns mitspielen, haben nicht krass viel Berührungspunkte mit Jazz, zumindest, wenn es ums Spielen geht. Aber beim Hören sind alle sehr am Start, zumindest bei den modernen Sachen. Wir sind zum Beispiel alle SNARKY PUPPY Fans. Solche Sachen sind dann unser gemeinsamer Nenner und wo Jazz sich auch aktuell hinbewegt.”
Die Magie und Tragik des Beinahen
Aber FORWARD’s DNA einzig und allein auf die Gegebenheiten der großen Besetzung zu reduzieren, würde der Band keineswegs gerecht werden. Es sind vor allem die Texte, die zwischen den Polen der Nostalgie und Sehnsucht hin- und herpendeln, die nachhaltig berühren und der Band ein Alleinstellungsmerkmal verleihen. Auf der aktuellen EP wird eine Beziehung zwischen zwei Personen, die nie zur richtigen Zeit die gleichen Gefühle füreinander entwickeln und kommunizieren können, verhandelt. Die Magie und Tragik des Beinahen wird auf den fünf Songs aus allerlei Perspektiven beleuchtet und die damit einhergehenden Konflikte unter dem Mantel einer toxischen Beziehung gefasst. “Für die eigenen Gefühle kann man natürlich nichts. Das Toxische daran ist nicht, dass die Gefühle nicht erwidert werden. Was ich damit beschreiben wollte, ist diese fehlende Kommunikation oder das Abwenden von einer Person, ohne etwas zu sagen”, erläutert Tim.
„Why do you think so differently? I just chose you over my biggest fears but you want me to go.“
FORWARD – „Dreamingboutyou“
Trotz der schlechten Aussichten kann man sich nicht endgültig von seinem Gegenüber loslösen, oder um es in FORWARD’s Worten zu sagen: “I am loosing in a loosing game”. Aber was genau ist es überhaupt, das einen noch dazu verleitet, das Spiel trotz der schlechten Ausgangslage und der Bewusstmachung, dass man womöglich als Verlierer rausgehen wird, mitzuspielen? Was hält einen davon ab, die Distanzierung zu wagen? Tim beschreibt den Zustand als ein “Taumeln zwischen den starken Gefühlen zu einer Person, die man aber sich nicht traut seinem Gegenüber zu offenbaren und der Tatsache, dass man auch nicht den Schritt wagt, sich endgültig zu distanzieren und zu sagen: ‘I am out’. Dieses Gefühl dazwischen, dieses Schwerelose ist für mich das loosing game. Man kann nicht mit, aber auch nicht ohne die andere Person und das beruht auch auf Gegenseitigkeit. Man ist in einer Scheiss-Situation und rational gesehen ist es auch vollkommen klar, dass man sich eigentlich entfernen und da raus muss, aber man schafft es irgendwie nicht und bleibt dann trotzdem da drin, obwohl man weiß, dass man mehr Leid reinbringt.”
Scheint so, als sei das Taumeln die Quintessenz dieses Leidensweges, die im Song “Like you (I Just Can’t Let Go)” lyrisch auf den Punkt gebracht wird. Die Schwerelosigkeit, die Tim in seine Antwort miteinbezieht, spiegelt sich auch auf dem Cover der EP wider. Es zeigt den orientierungslosen Fall eines Menschen.
So sieht das Cover zu „So Glad We’ve Almost Made It“ aus
Die Texte stammen allesamt aus Tims Feder. Auch wenn sie autobiografisch sind, sei es ihm besonders wichtig, die eigene Geschichte umzuformen, um sie interpretierfreudiger und zugänglicher zu machen. Seine niedergeschriebenen Geschichten sollen mehr sein, als bloß eigene Seelsorge. “Rückblickend war es für mich mega wichtig zu merken, dass die Songs auch so wahrgenommen werden, dass sie eine andere Ebene abhandeln als bloß nur ein oberflächiges ‘I want you back’ mit so komischen leicht ekelhaften ‘Baby’s’ oder so (lacht). Das will ich überhaupt nicht reproduzieren und habe die gesamten Lyrics deswegen auch genderneutral geschrieben, um das nicht im Vorhinein zu framen. Klar habe ich meine eigene sexuelle Orientierung, aber ich wollte die Texte frei davon haben.”
Still Overthinking Their Mind At Large?
Besonders aufmerksame Zuhörer*innen der EP, werden wohl über den Rückbezug zur Debüt-EP auf dem Closer “Wayback” gestolpert sein. Hier droppt Tim gegen Ende mehrmals die Zeile “Overthinking My Mind At Large”, den Titel ihres Debüts, auf dem das Erwachsenwerden musikalisch verarbeitet wurde. Es scheint, als würde das Überdenken der Dinge FORWARD nie ganz verlassen haben. Doch inwiefern unterscheidet sich das Overthinking auf “So Glad We’ve Almost Made It” zu dem auf seinem Vorgänger? “Dieser Overthinking-Prozess hängt auf der einen Seite natürlich mit dem Älter- und Erwachsenwerden zusammen, was persönliche Struggles mit sich bringt. Auf der neuen EP ist das Overthinken an diese toxische Beziehung geknüpft, die einen genauso Dinge hinterfragen lässt. Viele Prozesse, die in dieser Beziehung stattfinden, bestehen darin, dass man sich sehr viele Gedanken macht und sich tausendmal hinterfragt. Man kann da irgendwie keinen klaren Gedanken fassen.” Auch wenn einen das Overthinken oftmals negativ einschränke, bekräftigt Tim in unserem Gespräch ebenfalls, dass die Auseinandersetzung mit sich selbst auch in einem euphorischeren Kontext funktioniere, wie der Track “Wayback” zeigen soll.
Mit jeder weiteren gestellten Frage an Arne und Tim verstreichen die Minuten und der große Auftritt am heutigen Abend rückt näher. Später wird Tim auf der Bühne konstatieren, dass diese Show “etwas ganz Besonderes” für die Band sei; nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass FORWARD der Hannoverschen Newcomer*innen-Szene entsprungen sind, auf die das KiezKultur Festival, das dieses Jahr zum allerersten Mal stattfindet, in seinem Programm ganz besonders baut. Was bedeutet solch ein Festival für eine Band wie FORWARD und vor allem für die Musikszene der Stadt? Tim holt etwas länger aus und erzählt drauf los: “Wir kommen alle aus Hannover und sind hier alle groß geworden. Ich würde jetzt nicht sagen, dass wir krasse Lokalpatrioten sind, aber hier ist das ganze Projekt entstanden. Hier leben und schaffen wir und deshalb ist es für uns natürlich super schön zu sehen, dass dieses Festival stattfindet. Es gibt hier eine blühende Musikszene mit ganz vielen tollen Musiker*innen, was von Außen oft gar nicht so wahrgenommen wird. Man assoziiert mit Hannover eher negative Dinge als positive. Wenn man an die Musikszene denkt, dann fallen erstmal ein paar andere Städtenamen. Deswegen find ich es voll spannend zu sehen und toll, dass es für viele Musiker*innen, die hier aus der Bubble kommen, eine super Möglichkeit ist, sich weiter zu präsentieren.”
Arne, der während Tim spricht zustimmend nickt, führt den Gedanken weiter aus: “Es gibt auf jeden Fall sehr viele gute Musiker*innen hier, die super motiviert sind und schöne Musik machen, die aber in den letzten Jahren eher in ihrer eigenen Bubble waren und nicht wirklich rausgekommen sind. Ich habe aber gerade das Gefühl, dass sich das ändert und seit letztem Jahr viele am Start sind. SERPENTIN zum Beispiel. Ich hatte sie voll lange gar nicht auf dem Schirm, aber jetzt fangen alle an loszulegen und das finde ich richtig schön.” In der Tat. Schön, dass es dich gibt, liebes KiezKultur Festival, und dass du den Raum für diese Artists öffnest!
Wir kommen auf die Post-Punk- und (neue) neue deutsche Welle-Szene zu sprechen, die dieser Tage ihre Wiedergeburt erlebt. “Da sind mittlerweile auch voll viele Acts, die hier aus der Ecke kommen und sich super gut untereinander verstehen“, wirft Tim ein. Hannover muss sich mit DIGGI DANIEL und STEINTOR HERRENCHOR an der NNDW-Front keineswegs verstecken, ganz im Gegenteil. Aber auch über die Genregrenzen hinweg kennt und schätzt man sich in der niedersächsischen Landeshauptstadt: “Gerade in Hannover ist es schön, dass die Stadt überschaubar ist. Jetzt wo Konzerte wieder stattfinden, trifft man sich bei Gigs von Bands mit anderen Musiker*innen, ohne sich vorher zu verabreden. Es ist alles ein kleiner Kreis, aber dennoch vielfältig genug, sodass man genug daraus schöpfen kann. Es ist so toll, dass es so vielfältig ist und es auch einfach für alle Genres eine Daseinsberechtigung und Möglichkeiten gibt, sich in einer Stadt wie Hannover bestmöglich in den vorhandenen Venues und der Kulturszene entfalten zu können.” Ich merke, wie sich meine eher negativen Assoziationen gegenüber Hannover im Laufe unseres Gespräches aufweichen. Hier geht schon einiges, man muss nur genauer hingucken als anderswo.
Zum Abschluss philosophieren wir darüber, wo es mit FORWARD noch hingehen soll. Was ist noch möglich für die Achtergruppe aus Hannover? Tim und Arne betonen, dass sie so viel es geht Live spielen wollen, mit dem großen Traum, sich hoffentlich bald auch einem Publikum außerhalb des deutschsprachigen Raums präsentieren zu dürfen. Sich nicht darauf ausruhen, was bereits ist, lautet die Devise. Bloß kein Stillstand. “Stillstand ist nie gut, gerade in der Kunst”, wirft Malte (Tenorsaxophon) ein, der gerade mit Jan (Keys) den Raum betritt.
Ehe ich mich vorerst von Tim und Arne verabschiede, reden wir darüber, was ihre Live-Show ausmacht. “Wir haben den Anspruch, wirklich live Musik zu machen. Jeder Sound, den man hört, wird auch so gut es geht live eingespielt. Mittlerweile ist unser Set natürlich durchgeplanter, aber wir wollen trotzdem noch die Freude am Musizieren und den Spaß auf der Bühne rüberbringen und das schaffen wir, glaube ich, ganz gut. Das ist die Essenz unserer Live-Auftritte”, meint Arne. Das kann ich aus Beobachter*innen-Perspektive nur unterschreiben. Auch diesen Abend werden die Acht genau das auf der Bühne zeigen und diesem Motto mit bestem Wissen und Gewissen nachkommen.
Blank Space
Letztes Jahr gab Tim unserer Leser*innenschaft zum Abschluss folgenden Ratschlag mit auf den Weg: “Macht euer Ding! Es ist scheissegal, was die anderen davon halten. Und trinkt Sekt mit Mate.” Vor allem letzteres gelte noch immer. “Folgt jan_krohm_lover_69 auf Instagram” lautet das Wort zur Stunde nach reichlichen Überlegungen dieses Mal.
Fotos im Beitrag: Julius Bracke