Die „Gleichzeitigkeit von Brachialität und Zartheit“: Temporary Relief über ihre Debüt-EP

Temporary Relief aus Berlin (Beitragsbild: Mats Dylan)

Die Heavy-Shoegaze-Band Temporary Relief hat ihre Debüt-EP „Aimless“ veröffentlicht. Nachdem am 28. April mit „Storm“ bereits die Lead-Single aus selbiger erschienen ist, folgt nun die insgesamt vier Songs umfassende Erstveröffentlichung der vier Wahl-Berliner.

Wir trafen Temporary Relief in einer leider etwas zu teuren Berliner Kneipe und sprachen über den Entstehungsprozess ihrer EP, Genres und Shoegaze als Schmelztiegel.

„Also wenn ich mich recht erinnere hat alles angefangen, als ich im November ’21 mit Jan K. Bier trinken war“, erinnert sich Sänger und Gitarrist Jan A. über das Zusammenfinden, nachdem die Kellnerin unsere Bestellung entgegen genommen hat. K. übernimmt den Bass und ist aus gesundheitlichen Gründen an dem Abend verhindert: „[Er] hat leider Food Poison und lässt sich entschuldigen“. Der dritte Jan (H.), spielt ebenfalls Gitarre. Schlagzeuger Yannick komplettiert das Heavy-Shoegaze-Quartett: „Ich hatte lange keine Musik mehr gemacht, weil meine Metal-Band nicht in Berlin ist, wollte aber unbedingt auch hier Musik machen und dachte: ‚Ja, Shoegaze ist doch nett’“.

Die EP haben sie in ihrem Proberaum aufgenommen. „Während der Aufnahme eines Songs war im Nebenraum eine Surf-Rock-Band, die gerade geprobt hat und wir mussten das Aufnehmen der Vocals daran anpassen und abschneiden, damit da kein Surf-Rock im Hintergrund ist“, erzählt der Sänger lachend über den Prozess von „Aimless“. Gemischt wurde das Ganze von Jan H. „Angefangen zu Recorden haben wir im November oder Dezember vergangenen Jahres und das war dann auch relativ schnell durch. Das Mixing hat einfach viel Zeit in Anspruch genommen“, erzählt er, während er die beiden anderen Band-Mitglieder anschaut. Die drei interagieren während des Gesprächs permanent miteinander und sprechen mehr mit sich selbst, als für das Interview. „Wir haben im Januar ’22 angefangen uns zu treffen, der letzte Song stand dann vor einem dreiviertel- oder halben Jahr, wobei es zwischendurch auch Phasen gab, in denen wir uns nicht so oft gesehen haben. Die Texte sind schon früher in der Notes-App entstanden“, ergänzt Jan A. und zeigt auf seinem Handy auf Nachfrage hin Lyrics-Ausschnitte aus dem „Aimless“-Opener „Leaving“: „An aimless sense of longing/A need that can’t be fulfilled/You left me craving more/I’m dying of thist“. „Es ist das das erste Mal, dass ich singe und die Texte geschrieben hab und dadurch hat es für mich einen hohen emotionalen Stellenwert.“

Auch über das Genre, beziehungsweise den Stil und die Selbstwahrnehmung, habe man – trotz verschiedener Einflüsse zwischen Black-Metal, Midwest-Emo und Post-Punk – nicht lange nachdenken müssen, wie er erläutert: „Ich hab Shoegaze schon lange gehört und hatte irgendwie auch Bock auf diesen Sound und Jan K. war da auf jeden Fall auch offen für“. „Also das ist schon Musik, die ich immer gehört habe, aber auf jeden Fall jetzt nicht so, dass ich mir das krass reingenerdet hätte. In den alten Sachen von meiner Black-Metal-Band ist aber eigentlich auch viel Post-Rock und Shoegaze mit drin“, erklärt der Drummer zudem. Und das, obwohl einige Bands oft ein Problem damit zu haben scheinen, sich einem Genre unterzuordnen und sich und ihre Musik nicht kategorisieren wollen. „Vielleicht ist das auch der coolere Weg, das so zu sagen, aber für eine grobe Orientierung finde ich Genre-Bezeichnungen eigentlich gar nicht schlecht. Bei mir ist es vielleicht auch die Internet-Sozialisierung, dass man bei Last.fm über irgendwelche Tags auf andere Bands stößt“, reagiert der Sänger darauf. „Die Shoegaze-Playlist, in der wir mit der ersten Single [„Storm“] jetzt drin sind, ist super heterogen. Eine Post-Punk-Playlist beispielsweise klingt viel homogener, wenn du dich da durchhörst. Bei der Shoegaze-Playlist könntest du bei dem einen Song sagen: ‚das ist Black-Metal‘, der nächste ist dann Pop. Da fehlt schon ein bisschen was kohärentes, finde ich, was auch irgendwie cool ist“, führt Jan H. aus und zuckt mit den Schultern. „Außer Hall“, erwidert Jan A., ebenfalls Schultern zuckend. „Ja, ich hab vor allem viel Hall und Distortion in das Geschrei gemischt, damit das überhaupt nach irgendwas klingt. Bei dem einen Song haben wir die Screams im Proberaum aufgenommen und Jan K. meinte: ‚Ich glaub den lassen wir einfach raus‘, weil der in dem Raum so scheiße klang.“, erinnert er sich mit den beiden Anderen zusammen.

(v.l.n.r.): Jan H., Yannick und Jan A. im Gespräch mit picky Johannes (Foto: ©Mats Dylan)

„Diese Gleichzeitigkeit von Brachialität und Zartheit, die berührt mich krass und dafür stehen die Parts auch, finde ich. Die Aggression auch zuzulassen und gleichzeitig das Sanfte, was auch in jedem drin ist, zu zeigen

– Jan H. über die vielleicht treibende Kraft, die hinter Temporary Relief steckt

Im Nachhinein sei man aber froh, das Element beibehalten zu haben, erklärt Jan A.: „Diese Parts haben sich irgendwie natürlich ergeben, wir haben das überhaupt nicht forciert oder so. Und ich mag – vielleicht klingt das jetzt kitschig – dieses Epos-artige, wenn es ausbricht und fulminiert“. „Und generell, was auch das Genre oder der Begriff zulässt, diese Gleichzeitigkeit von Brachialität und Zartheit, die berührt mich krass und dafür stehen die Parts auch, finde ich. Die Aggression auch zuzulassen und trotzdem das Sanfte, was glaube ich auch in jedem drin ist, auch zu zeigen“, zeigt Jan H. auf. „Die [Parts] setzten das ganze irgendwie ab, finde ich“, stimmt der Sänger nickend zu. Und schlussfolgert: „Ich muss auch sagen, dass mich diese neueren Shoegaze-Bands mit Hardcore- und Black-Metal-Einflüssen oder Post-Rock stark beeinflussen, also mein größter Einfluss ist Nothing aus Philadelphia. Der Sänger war davor in einer Harcore-Band und die haben mich fundamental geprägt, was meinen Musikgeschmack angeht und das Interesse für melancholische Musik, die nach vorne geht und einen mitnimmt.“

But if they drop the bombs tomorrow/Yeah if they drop the bombs tomorrow/I only have one wish/To be by your side/One last time

Temporary Relief – Storm

Ein Subgenre, dass es in Deutschland kaum zu geben scheint. Zwar genießt Shoegaze an sich seit dem vergangenen Jahrzehnt einen höheren Stellenwert, als noch in den 90er Jahren – in denen in den USA der Grunge und auf der Insel der Britpop die Gitarren-Jugend raus aus dem eintönigen, langatmigen Klangteppich zog – wie man beispielsweise an den Reunionen von Größen wie Ride und Slowdive, oder dem Hype rund um DIIV sieht. Hierzulande scheint sich jedoch nahezu gegen eine Etablierung eines Shoegaze-Revivals gewehrt zu werden. „Im Moment fühlt es sich noch etwas isoliert an, aber natürlich fände ich es cool, wenn sich da noch was ergeben würde, sich da etwas entwickelt und man noch auf andere Bands stößt“, so Jan A. über die Abwesenheit einer Szene. „Ich nehm noch eins! Pils, bitte!“, wendet Jan H. feundlich ein und meint anschließend: „Ich glaub unser Vernetzung geht eher in anderen Richtungen: Metal, Post-Punk. Ich hab aber total Bock darauf, mit anderen Bands in Kontakt zu treten, die auch Bock auf diese Mucke haben.“

Foto: Mats Dylan

„Diese Mucke“, das kann die oben zitierte „Gleichzeitigkeit von Brachialität und Zartheit“ meinen. Dass diese Zartheit, dieses ominöse Sanfte, genauso in jedem steckt wie Aggressionen, ist natürlich keine neue Erkenntnis. Dass diese Gleichzeitigkeit in den Mitgliedern von Temporary Relief steckt, ist – gerade zwischen den Screams und dem teilweise vom Metal angeleiteten Schlagzeug – jedoch hör- und vor allem spürbar. Und dieser greif- und spürbare, kitschige, musikalische Epos – der vielleicht als die Speerspitze ebendieser Gleichzeitig verstanden werden kann – und die Auseinandersetzung mit ebendiesem scheint dann doch wie eine Seltenheit.

Hier kannst du dir das Debüt von Temporary Relief anhören: