Der Fall Marteria – Warum wir noch lange nicht da sind, wo wir sein sollten

Marteria spielt trotz der Vorwürfe gegen ihn dieses Jahr als Headliner beim Hurricane und Southside (Foto: William Minke)

Wir müssen reden. Gestern kündigte das Hurricane und Southside Festival Marteria als letzten Headliner an. Dieser wurde mehreren Medienberichten zufolge vor gut drei Wochen in den USA unter Arrest gestellt, nachdem er eine Frau gewürgt haben soll. Das Verfahren wurde mittlerweile eingestellt, die Polizeiakten sind allerdings noch öffentlich einsehbar…

Dies ist ein Meinungsbeitrag.

Vorab: Irgendwie ganz schön frustrierend was die letzten Tage in diesem Zusammenhang alles auf Social Media zu lesen war. Gerade vor ein paar Stunden erst erschien unser Interview mit der Band Blond (hier), indem es unter anderem auch um das Thema sexualisierte Gewalt und um den Umgang der Musikindustrie damit ging. Wie Nina ganz richtig sagte: „Das ist ein Thema, das immer noch unfassbar relevant ist. Man denkt ja immer, es sei auserzählt, aber man unterschätzt, wie viele Leute sich noch nie damit beschäftigt haben!“ Nun ja. Der Fall Marteria zeigt, warum wir noch überhaupt nicht da sind, wo wir sein sollten und was nicht nur auf Fan-, sondern vor allen Dingen auf Branchen-Seite falsch läuft.

Bevor es losgeht zur Transparenz: Warum schreibe ich diesen Text überhaupt? In erster Linie, weil ich ziemlich wütend bin. And guess what – das macht mich nicht irrationaler oder weniger befugt etwas dazu zu sagen, ganz im Gegenteil. Ich bin sogar der Auffassung, dass Wut der richtige Motor ist, um diese Zeilen überhaupt verfassen zu können. Ansonsten wäre ich wahrscheinlich viel zu müde, mir überhaupt die Mühe zu machen. Ich bin wütend darüber, dass eine Frau offenbar mal wieder Gewalt durch ihren Partner erleben musste. Wütend darüber, dass sich die Mehrzahl der Leute bei Bekanntwerden des Falls  zu unsolidarischen, verharmlosenden und abstoßenden Kommentaren haben hinreißen lassen. Wütend darüber, dass Marteria zwei Wochen lang auf ein „Statement“ hat warten lassen, das sich als Nonpology herausstellte. Und besonders wütend darüber, dass er nun mit einem Headliner-Slot auf dem Hurricane und Southside quasi auch noch belohnt wird. Aber alles der Reihe nach. Was ist überhaupt passiert?

Eins nach dem anderen

Am 4. April teilte SPIEGEL Online mit, dass Marten Laciny, wie Marteria mit bürgerlichem Namen heißt, am 30. März in North Carolina kurzzeitig unter Arrest gestellt worden ist. So weit so klar. Der Verhandlungstermin war laut SPIEGEL für den 18. April angesetzt. Die Amerikanische Justiz lies die Vorwürfe an besagtem Termin, an dem Marteria übrigens nicht anwesend war, fallen. Gründe für das Ausfallen des Urteils sind weiterhin unbekannt. Allerdings teilte die US-amerikanische Zeitung The Charlotte Observer mit: 

„The case was dismissed due to insufficient evidence and not being able to move forward without either the victim’s testimony or physical evidence of injury, the DA’s office confirmed to the Observer on Wednesday morning. The victim did not want to proceed with prosecution and declined medical treatment, Meghan McDonald, the office’s Community Liaison Coordinator wrote in an email to The Observer.“

Die Betroffene hat laut T.C.O. die Aussage als Zeugin also verweigert und verneinte im Vorhinein eine medizinische Untersuchung zur Feststellungen ihrer Blessuren – so fehlte dem Gericht die Grundlage für eine Verhandlung. Dazu schreibt @lowerclassjane in einem Kommentar unter unserem Instagram-Posting zu diesem Artikel sehr passend:

„Es ist deshalb wichtig weil es die Dimensionen deutlich macht und aufzeigt dass die [Handlungsfähigkeit] [Anm. des Verf.] der Betroffene aus welchem Grund auch immer eingeschränkt ist und dadurch auch den Medien eine juristische Grundlage fehlt über Verdacht hinaus zu schreiben was es wiederum der Täter Partei einfacher macht juristische Maulkörbe zu verteilen.“ So viel dazu. 

Schließlich meldete sich der Rapper zwei Tage später das erste Mal selbst zur Causa zu Wort. Und spätestens ab da wird’s so richtig kopfzermaternd.

Screenshot von Marterias Statement, mittlerweile gelöscht (Quelle: Instagram)

Puh. Da weiß man ja gar nicht, wo man anfangen soll. Deswegen am besten von oben nach unten.

How To Verharmlosung

1.) Schon interessant, dass in dem Statement im „wir“ konjugiert wird. „wir [haben] uns danach wieder vertragen“, „die letzten 3 Wochen [waren] für uns […] extrem belastend“, „Wir bitten euch […] unsere Privatsphäre zu respektieren.“ Wie wär’s wenn du an dieser Stelle mal nur für dich sprechen würdest, anstatt stellvertretend für beide Parteien? Schließlich beruhen die Angaben in der Polizeiakte auf den Aussagen der betroffenen Frau, die sich selbst noch gar nicht zu Wort gemeldet hat. Und man kann an dieser Stelle natürlich nur mutmaßen, aber vielleicht hätte sie die Geschichte anders erzählt. Stattdessen wurde sie nun für sie erzählt. Wo wir auch schon beim nächsten Punkt wären.

2.) Täter-Opfer-Umkehr at it’s best: Wenn die vergangenen Wochen so extrem belastend für Marteria gewesen sind, stelle man sich nur mal vor, wie es wohl Betroffenen Häuslicher Gewalt geht, deren Fall öffentlich gemacht wird und sich der mutmaßliche Täter dabei auf die komplette Rückendeckung seiner Fans verlassen kann…Oh.

Die Medien sind schuld (lol)

3.) Marteria beklagt sich also über eine „Vorverurteilung durch die Medien“ und „Falschberichterstattungen“. Chapeau, wie innovativ. Da ist vorher ja noch niemand draufgekommen. Ganz im Ernst, woran sind die Medien schuld? Dass sie auf Grundlage eines öffentlich einsehbaren Polizeiberichtes über eine Person des öffentlichen Lebens berichten? C’mon… Es ist so frustrierend, dass solch eine PR-Strategie tatsächlich zu funktionieren scheint. Damit Leute anzuziehen, die sowieso schon eine große Medienverschwörung wittern, scheint egal zu sein. Na, herzlichen Glückwunsch!

Und ich wiederhole mich, aber die Polizeiakte ist öffentlich einsehbar, auf die sich „die Medien“ (wer auch immer diese homogene Gruppe sein soll?!), wie beispielsweise der SPIEGEL, bezogen haben. Dass da von „Vorverurteilung“ zu sprechen quatschig ist, muss hoffentlich nicht erklärt werden. Ich hätte da ein Synonym im Angebot, das an dieser Stelle wohl angebrachter gewesen wäre: Berichterstattung (take it please). Langsam beschleicht einen doch das Gefühl, dass der Einzige, der hier womöglich falsch berichtet, Marteria selbst ist. Dieses Gefühl intensiviert sich auch im absoluten Tiefpunkt des Statements.

Lügen trotz öffentlich einsehbarer Akten?

4.) „Es hat weder eine Kaution noch eine Anklage und erst recht kein Würgen gegeben.“ Netter Versuch, nur leider haben sie es in den Staaten nicht so mit Datenschutz. 

Quelle: https://mecksheriffweb.mecklenburgcountync.gov/ (öffentlich einsehbar, probiert’s gerne selbst aus)

Wenn Booking zum Politikum wird

So viel zu dem Vorfall und Marterias öffentlichen Äußerungen dazu. Weiter im Text: Gestern wurde der Rapper aus Rostock als finaler Headliner fürs Hurricane und Southside angekündigt. Wenn eine Sache in dieser Hinsicht beruhigend ist, dann ist es die Tatsache, dass das Booking auf einen Shitstorm bei Instagram und Twitter gestoßen ist. Es wurde zumindest seitens der Festivalbesuchenden nicht unkommentiert hingenommen – immerhin etwas. Und bevor wieder Schreie über die ach so böswillige Cancel Culture laut werden: funktioniert Cancel Culture so, dass man einfach so weiter machen kann wie bisher und sich um große Bookings keinerlei Sorgen machen muss?

Die viel entscheidendere Frage ist jedoch: Wieso ausgerechnet jetzt? Wochenlang hat das Hurricane und Southside seine Community mit einem provisorischen Balken an der Headline-Front hingehalten, um ihn dann jetzt durch Marteria zu ersetzen. Hat man in der Zwischenzeit nicht die Gelegenheit gehabt, diesen Slot anders (man stelle sich bloß vor, vielleicht sogar mit einem Act mit weiblicher Beteiligung) zu besetzen? Oder war Marteria bereits gebucht? Wieso hat man ihn dann nicht ausgeladen sondern mit der Ankündigung bis zum schlecht möglichsten Zeitpunkt gewartet? Fragen über Fragen, die das interne Festival-Team wohl nur selbst beantworten kann. Zum jetzigen Zeitpunkt wirkt es leider eher so, als hätten sie sich diese nicht mal gestellt, was die Sache kein Stück besser macht. Wirklich nicht. Wenn’s nach mir ginge, hätte der Balken ruhig da stehen bleiben können. 

Wahrscheinlich haben hier, wie so oft, wirtschaftliche Interessen moralische geschlagen. Wobei das bei der Act-Größe und dem zu vergebenden Slot auch nicht ganz hinkommen kann; bei allem Respekt. Noch viel grotesker ist vor diesem Hintergrund der Fakt, dass die Schwester-Festivals vorletzte Woche „Gamechanger“ – einen Newcomer-Contest für FLINTA*-Acts auf dem Hurricane und Southside – vorgestellt haben. Da fällt einem wirklich nichts mehr zu ein. Hier ein passender Tweet unter der Marteria-Ankündigung, der es so ziemlich auf den Punkt bringt:

Nach all den unzähligen Debatten in diesem und letzten Jahr über geschlechtergerechte Line-Ups auf großen deutschen Festivals und dem Aufkommen von #Deutschrapmetoo und Niemand Muss Täter Sein, ist der Fall Marteria ein bitterer Realitätsbeleg: Es hat sich wenig geändert im Umgang mit potentiellen Tätern. Im Zweifel darf man(n) sich sogar erkenntlich zeigen, weiterhin die größten Bühnen des Landes bespielen zu dürfen. Konsequenzen gibt es keine. Es muss sich einiges ändern – im Booking und in der Moral großer deutscher Festivals. Denn so wie es jetzt ist, darf es auf keinen Fall bleiben. 

Kein Herz für Täter

Ich kann mir kaum vorstellen, dass in dieser Sache bereits das letzte Wort gesprochen ist. Und sollte es doch so sein, muss ich mich wohl mit der ernüchternden Erkenntnis abfinden, dass die Bubble in der ich mich bewege im Vergleich zu den Big Playern der Branche eben nur das ist: eine Bubble. Grüße auch an die Weltverbesserer von den Toten Hosen. Euer Herzchen hättet ihr euch unter Marterias Post wirklich sparen können. Danke für gar nichts. Schon erstaunlich, dass ein derart schwammiges Statement dafür ausreicht, die Vorwürfe für so viele Außenstehende zunichte zu machen. Zum Abschluss möchte ich gerne einen der wenigen Kommentare zitieren, dem ich guten Gewissens voll und ganz zustimmen kann: „Es ist keine Privatsache, wenn es zu Gewalt im Streit kommt.“

P.S.: Volle Solidarität mit allen Betroffenen häuslicher, emotionaler und sexualisierter Gewalt. Unabhängig dieses Artikels immer und überall.