Tristan Brusch klingt auf seiner neuen EP Operationen am faulen Zahn der Zeit so verletzlich und sensibel, wie ich es von einem Künstler lange nicht mehr gehört habe!
Obwohl das Debüt-Album Das Paradies von Tristan Brusch gerade mal ein Jahr alt ist, kommt es mir trotzdem wie eine Ewigkeit her, dass ich frischen Output von diesem verdammt underrateden (geil gedeutscht) Künstler höre. Vor ein paar Wochen hatte ich schon seine 2020-Solo-Tour angekündigt, nun folgt die Review zu seiner sehr gelungenen EP Operationen am faulen Zahn der Zeit.
Obwohl die gesamte Spieldauer nur schnuckelige 14 Minuten beträgt, zieht die Musik einen doch so in seinen Bann, dass man denkt, man hätte da gerade eine ganze LP gehört. Die Platte ist vier Songs stark und beinhaltet eine Coverversion eines alten Bekannten, die mich komplett aus den Socken gehauen hat. Doch schön alles sortiert und der Reihe nach, wie nicht jedes Mal wenn eine neue Kasse im Supermarkt aufmacht.
Mach den Mund ganz weit auf und sag Ahhhhh!
Die Moritat vom Schweighöfer ist der Opener und drückt dir sofort das Setting der ganzen Scheibe ins Gesicht. Nur ein Piano und Tristans feine Stimme. Der Song spielt stark mit meinen Stimmungen und liefert eine gesellschaftskritische Punchline nach der anderen ab! Da fällt sogar dem Schweighöfer sein Zahnpasta-Grinsen aus dem Gesicht und Til Schweiger hört kurz damit auf, das nächste grottige Drehbuch umzusetzen. Absolutes Highlight sind mal wieder die Texte:
Nimm mich so wie ich bin
und bring mich zur Psychiaterin
Diese Wortgewandtheit und das Spielen mit der Sprache, kenne ich in der Form bisher nur von Tristan Brusch. Sehr involvierende Eröffnung, sehr ehrlicher Song. So schön können Anfänge sein.
Dann geht es heiter weiter mit Siegertreppchen. Also nicht wirklich heiter, sondern einfach nur weiter. Es geht bei diesem Song um die moderne Leistungsgesellschaft und Ängste um die eigene Zukunft, nicht genug zu sein. Obwohl diese Themen eher bedrückender Natur sind, hat der Song dennoch einen offenen und optimistischen Charakter. Vor allem die Musik und die Melodie lassen einen im Kontinuum zwischen Alles ist scheiße und das wird schon hin und her kullern. Insbesondere die Harmonien und Melodien im Chorus haben mir ganz besonders gefallen. Richtig deep.
Tristan Brusch covert sich selbst! Ist das zu fassen?
Auf dem dritten Platz kommt das bereits angesprochene Highlight. Wer Tristan Brusch noch von den Maeckes-Zeiten kennt, der weiß, dass er 2015 eine EP namens Fisch gedroppt hat, auf der es einen Song gibt der – Überraschung- Fisch heißt. Nicht dass das Original nicht schon funktionieren würde, nur diese Coverversion klingt nochmal so viel intensiver und einnehmender, dass ich denke, man hört einen ganz neuen Song.
Dadurch, dass die Version nur aus Gesang und Klavier besteht, verschiebt sich mein Fokus als Hörer auf den Text und die gewaltigen Emotionen, mit denen er vorgetragen wird. No Joke Leute, ich hatte echt Gänsehaut und hab den Song bestimmt 5x hintereinander auf Repeat gehört.
Das Schlusslicht der EP macht dann der Song 20.15, welcher meiner Meinung nach einer der besten Texte enthält, die in diesem Jahrzehnt geschrieben wurden. Auf Meta-Ebene geht es um die geistige und körperliche Degeneration der Menschen, vor allem in den westlichen Gesellschaften.
Heute denke ich bein Nägeln an Stutzen
bei der Jagd an Besitzen
bei Zähnen ans Putzen
Ich will versinken in Ritzen
Es geht um ein lyrisches Ich, was in seine Vergangenheit blickt und merkt, wie krass es sich von sich selbst entfernt hat. Wie sich die eigene Bedeutungen mancher Worte über die Jahre geändert hat. Viertel nach Acht: Zeit für den Tatort, schätze ich mal. Krasser letzer Song, der garantiert in deinem Bewusstsein kleben bleibt und sich immer dann meldet, wenn er sich mit deiner Realität synchronisiert.
Die Narkose lässt nach, zurück bleibt ein bittersüßer Geschmack im Mund
Nachdem Das Paradies ziemlich verdreht und eigensinnig daherkam (im absolut positiven Sinne), klingt Operationen am faulen Zahn der Zeit sehr viel anschmiegsamer und harmonischer. Auch die Produktion ist sehr angenehm zu hören: Man hörte jede Feinheit in der Betonung und Nuance der Stimme. Jedes Knistern und Knacken des Klaviers und der Gitarre. Genau dafür werden Schallplatten gemacht! Ich hatte fast die ganze Zeit über beim Hören Gänsehaut.
Tristan Bruschs lyrisches Genie wird auf dieser EP ganz besonders deutlich. Lediglich von einem Klavier begleitet, kann ich mich als Hörer vollkommen auf den Text, den Gesang und die entstehenden Emotionen konzentrieren und mitziehen lassen. Großartige EP und ganz besondere Musik!
Die Platte klingt ein bisschen so, wie du dich nach dem Feiern fühlst: Zu viel geraucht, daher fühlt sich dein Mund ekelhaft an. Du gehst ausgelaugt und mit ein paar schönen erlebten Gefühlen im Gedächtnis mehr nach Hause und fällst seelig ins Bett.
Hier kannst du dir noch das Musikvideo zu Die Moritat vom Schweighöfer reinziehn: