Eiskratzer #3: Geht Hardcore vor die Hunde?

Es liegt im Genre an sich zugrunde, dass immer wieder diskutiert werden muss, was Hardcorepunk ist und was nicht. Aber momentan entwickelt sich eine neue Lesart des Hardcorepunks: Klanglich weich, textlich beinhart. Wie solche Ausgestaltungen aussehen und klingen können, und dass das perfekte gateway drugs zum Ursprungssgenre sind, lest ihr in der dritten Ausgabe des Eiskratzers.

Die Temperaturen sind unter 30 Grad gefallen, die Gehirne funktionieren wieder normal. So, jetzt kann man auch wieder ernstgemeinten Musikjournalismus betreiben. Entschuldigt die Sommerpause, aber die Saure-Gurken-Zeit hätte mich gezwungen, über Benson Boone oder Addison Rae zu schreiben und das wäre nicht gut ausgegangen.

Neulich meinte eine Freundin zu mir, ich sei ein “granola boy”. Nach kurzem Unverständnis und einer kleinen Social-Media-Einordnung ihrerseits erkenne ich schnell, dass ich unfreiwillig in einen Trend gerutscht bin. Ausflüge ins Grüne, Catch and Cook, Outdoorklamotten, Schnurrbärte. Und all das untermalt von Post-Hardcore. Ist es wirklich so, dass ein einziger Song des des Postpunk-Duos SOFT PLAY  ausreicht, dass jeder seinen Corporate-Job kündigt, einen Schrebergarten in der Vorstadt mietet und akribisch Zucchini züchtet? Oder steckt da vielleicht mehr dahinter?

Tatsächlich ja. Erster Hardcore-Grundsatz: PMA – Positive Mental Attitude. Beeinflusse das, was du beeinflussen kannst, so positiv wie möglich. Nimm die ausgeteilten Karten des Lebens so positiv wie möglich auf. Heißt übersetzt: Mach was Gutes, etwas Produktives. Da passt ne selbst gefangene Forelle und eine Nacht im Camper ganz gut, finde ich. Es ist wahrscheinlich auch nur subjektiv, dass Midwest Emo und die Slow Motion-Gitarrenriffs von Title Fight halt einfach besser zu langsam fallenden Herbstblättern passen als zu ekstatischen Punkshows. 

Demografie trägt auch ihren Teil dazu bei. All die Millenials, die damals zu den sortenreinen Metalcore-Songs von Hatebreed ihre Liebe für Hardcore entdeckten, sind jetzt junge Eltern, haben Lastenräder und Birkenstocks. Und keine Energie mehr für Hardcore-Shows am Wochenende. Mit Babyphone im Moshpit wäre auch schon witzig. Nur noch die Tattoos auf der Wade zeugen von ihrer wilden Vergangenheit. 

Dann darf natürlich nicht die Hardcore-Innovationsspeerspitze Turnstile vergessen werden, die momentan ihr neues Album „NEVER ENOUGH” durch Europa und Amerika tragen wie Prometheus das Feuer. Deren Tiny Desk Concert samt Moshpit im Büro zu schauen erzeugt ein Gefühl der gleichen Art,  wie wenn man gezwungen ist, ein Fußballspiel mit Kopfhörern im Ruhebereich zu schauen und bei einem Tor im Flüsterton los schreit. 

Ich bin total an Bord für alle Drehungen und Wendungen, die Post-Hardcore als Genre in der Zukunft noch erleben wird. Und wenn das heißt, dass Turnstile mit einem Pianisten auftreten, ist das klasse. Noch besser, wenn das gesamte Recording auf diesen Flüsterton abzielt. Militarie Gun’s EP “Life Under The Sun” oder “New Heart Designs” von Turnstile sind eben die Gütesiegel A-Editionen von diesem neuen Subgenre. Es fehlt nicht mal etwas. Alle Songs stehen ihren Originalversionen nichts nach. Anstatt zu shouten, kommt ein Harmonizer auf die Stimme. Statt Crashbecken mal eine Triangel. 

Böse Zungen würden jetzt behaupten, das sei ja alles kein Hardcore mehr. Aber es geht um dieselben Motive, es sind dieselben Zerrissenheiten, es geht um Laster, Katharsis, emotionale Konflikte.

Mind’s a Lie” von High Vis lehnt sich musikalisch auch aus dem Fenster, aber in die richtige Windrichtung. Nordenglischer Dialekt auf langsamen House, geerdet durch die reflexiven Gedanken von Graham Sayle. Es klingt fast ein bisschen wie grooviger Triphop. 

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Und jetzt stellt es euch nochmal mit dieser Klangkulisse auf den Ohren vor: im Campingstuhl versinken, Chips aus einer griechischen Supermarktfiliale, Autan-Geruch, Grillen. Stimmig, oder?

So, jetzt hab ich euch erfolgreich für höflichen Flüster-Post-Hardcore gewonnen. 

Die Honorable Mentions: Fiddlehead, Higher Power, Home Front. Nicht erschrecken, wenn doch hier und da mal die Hardcorewurzeln in Form von Overdrive und Geschrei hochkommen.