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Der Umgang mit Machtmissbrauch in der Indie-Szene 

Vorwürfe des Machtmissbrauchs gegen ehemaligen Fotografen von JEREMIAS und Von Wegen Lisbeth: Die deutsche Indie-Szene hatte in letzter Zeit einiges aufzuarbeiten. Wie soll es nun weitergehen? (Symbolfoto)

Die deutsche Indie-Bubble ist weit entfernt davon, der Safe(r) Space zu sein, den sie als Bild nach außen gerne propagiert. Woran das liegt und was sich ändern muss – ein Kommentar. 

Es ist mal wieder Zeit für so einen Text: In den vergangenen Monaten geriet vor allem die Band JEREMIAS heftig in die Kritik, nachdem Vorwürfe des Machtmissbrauchs gegen einen ihrer Fotografen erhoben wurde, sie aber die Arbeit mit ihm als Director kurzzeitig für ihr Musikvideo zu Sag mir was ich nicht weiß (mittlerweile offline genommen) fortsetzten. Dabei soll es vor allem um das „Ausnutzen von Spaces und Machtgefällen durch diesen Fotografen“ gegangen sein, wie es in dem Statement heißt, dass die Betroffenen-Gruppe via @hoert.betroffene auf Instagram im Zuge dessen veröffentlichte. Gleichzeitig erschien auf öffentlichen Druck hin auch ein ausführlicheres Statement der Band im November 2024, die sich zuvor lediglich in einer temporären Instagram-Story (bei DIFFUS einsehbar) zu den Vorwürfen geäußert hatte. Die Zusammenarbeit ist seit einigen Monaten nun final beendet.

Der öffentliche Diskurs jedoch, so scheint es, nimmt gerade erst wieder so richtig Fahrt auf, seitdem sich auch Von Wegen Lisbeth vor einigen Tagen erstmals zu den Vorwürfen geäußert haben. Eine weitere Band, für die der Fotograf tätig gewesen ist. Giant Rooks sollen ebenfalls mit ihm zusammengearbeitet haben, ließen bisher aber nichts dazu verlauten. In der Art und Weise, wie gerade die Debatte auf Social Media, vor allem auf TikTok und in Instagram Kommentarspalten geführt wird, liegt auch schon die erste Gefahr, die in dem Diskurs gerne übersehen wird:

Es ist in jedem Falle richtig und wichtig, Machtmissbrauch in der Musikbranche zu hinterfragen, ihn anzuprangern. Liest man jedoch das Statement der Betroffenen-Gruppe, so erweckt es den Anschein, als sei es durch die große Öffentlichkeit zunehmend schwieriger geworden, dass sie in einem, wie sie selber schreiben, „sicheren und geschützten Rahmen gehört und ernst genommen werden“ können. Daher sei in diesem Text vorweggenommen: Volle Solidarität mit allen Betroffenen, glaubt ihnen und lasst sie ihre Geschichte so erzählen, wie sie es möchten. Niemand, der nicht betroffen war oder ist, hat das Recht, sich in dieser Sache in eine Delegierten-Rolle zu erheben. Was wir jedoch können: Empathie zeigen und Beistand leisten. Und dazu sei auch jede*r ausdrücklich aufgefordert.

Das ausführliche Statement der Betroffenen könnt ihr via @hoert.betroffene nachlesen.

In der Zwischenzeit haben Von Wegen Lisbeth ein zweites Statement veröffentlicht, in dem sie offenlegen, dass sie eine Betroffenen-Nachricht erreicht hat, in der es um einen Fall von sexueller Belästigung ausgehend eines Bandmitgliedes geht. In der Kommentarspalte zeigt sich: Die Betroffene wusste offenbar nichts davon, dass ihr Fall publik gemacht wird, es scheint, als sei dieser Schritt im Vorhinein nicht miteinander abgestimmt worden. Mal abgesehen davon, dass die Band toxische Männlichkeit in ihrem Statement selbst entlarvt, indem sie offen zugeben, sie könnten nicht ausschließen, dass es passiert sei, wurden hier offensichtlich die Bedürfnisse und Wünsche der betroffenen Person im Prozess der Kommunikation übergangen. So viel dazu.

Wieso äußern wir uns aber jetzt? Als Magazin, das in seinem Selbstverständnis vor allem die Indie-Szene im deutschsprachigen Raum abbilden möchte, wäre es unverantwortlich, weiter dazu zu schweigen, auch wenn wir intern im Team und privat uns über diese Debatten austauschen. Natürlich würde ich mich lieber mit den schöneren Dingen beschäftigen – z.B. Alben rezensieren, auf die ich mich freue, oder über Konzerte schreiben, die ich in letzter Zeit besucht habe. Dafür bin ich damals hier angetreten. Aber auch ich habe als junge Frau im Teenager-Alter, als ich mit 18 in die Redaktion gestoßen bin, leider schnell merken müssen, dass in der sogenannten “Indie-Bubble” nicht alles glänzt, was Gold ist. Während ich diesen Text hier schreibe, gehört auch zur Wahrheit: Ich muss mir bei jedem Satz ganz genau überlegen, wie ich ihn formuliere, um mich vor eventuellen rechtlichen Konsequenzen zu schützen. Der Konjunktiv ist mein bester Freund. Ich habe keinen Bock auf Anwaltspost in meinem Briefkasten.

Patriarchat ist überall – auch im Indie

Das zeigt doch, dass das Problem leider noch viel schwerer wiegt, als die Vorwürfe gegen die Bands (ohne diese damit herunterspielen zu wollen), die aktuell namentlich in diesem Zusammenhang genannt werden. Es sind strukturelle Probleme, die an der Wurzel gepackt werden müssen. Dass die Musikbranche kein magischer Ort ist, vor deren Toren das Patriarchat und seine sexistischen Strukturen halt und kehrt machen, sollten wir spätestens seit dem Rammstein-Eklat alle, und zwar wirklich alle, gecheckt haben. Sich aber einzugestehen, dass auch die Kreise, in denen man selbst unterwegs ist, in denen man sich in Sicherheit wiegt, eben keine sicheren Orte sind, ist erstmal schmerzhaft. Noch schmerzhafter finde ich es allerdings mitanzusehen, wie sich vor allem junge Frauen in diese Orte flüchten, weil sie dort – wer will es ihnen verdenken – eben das Gegenteil, eine kleine sichere Blase, erwarten. Wer das, ob bewusst oder unbewusst, ausnutzt, gehört zurechtgewiesen. Niemand sollte mit der Angst, sich selbst schützen zu müssen, auf Konzerte gehen, sondern eine gute, ausgelassene Zeit haben. Wenn Bands das Vertrauen zu ihrem Publikum aber dermaßen für die Zusammenarbeit mit Crew-Mitgliedern, die ihre Machtposition auskosten, aufs Spiel setzen, ist das eine Farce.

Gut ausgearbeitete, funktionale Awareness-Konzepte auf Konzerten und Festivals sind wichtig, können aber eben nicht alles verhindern. Daher ist es umso wichtiger, dass alle Akteure gewissenhaft mit ihrer Aufgabe und Position umgehen. Egal, ob Musiker*innen, Tourmanager*in, Merch-Person, Veranstaltende, Booking-Agentur und alle weiteren Involvierten. Die Crux dabei? Wer vergewissert uns, dass sich alle ihrer Verantwortung bewusst sind? Wie können wir uns wirklich darauf verlassen, dass das alle in einer patriarchalen Gesellschaft auch tun und sich nicht auf ihrer profitablen Position ausruhen? Richtig, gar nicht. Deshalb: Großen Respekt und volle Solidarität mit allen, die sich dafür einsetzen, nach bestem Wissen und Gewissen ihrer Arbeit in der Live-Branche nachgehen und bei Fehlverhalten Konsequenzen ziehen. Keep it up.

Apropos Awareness: Im Statement von JEREMIAS liest man von der Agentur Same But Different, die in den Aufarbeitungsprozess involviert gewesen sein soll. Über die Agentur wurde nach Angaben der Band ein Mail-Postfach zum Austausch mit Betroffenen eingerichtet. Mal abgesehen davon, dass ich mich persönlich schon an dem Begriff Diversity Agentur störe, darf es einem mindestens genauso merkwürdig vorkommen, dass man im Impressum des Unternehmens namentlich auf einen der Geschäftsführer stößt, der in seinem eigenen LinkedIn-Profil angibt (Stand 13.03.2024) bis November 2023 Tourmanager von Von Wegen Lisbeth gewesen zu sein. Zufälle gibt’s. JEREMIAS schreiben in ihrem Statement, sie würden mit Runa Hoffmann zusammenarbeiten, die ebenfalls als Geschäftsführerin im Impressum aufgeführt ist. Auch Von Wegen Lisbeth sprechen von einer „vermittelnden Agentur“, die sie in den Prozess eingeschaltet haben. Um welche es sich handelt, ist unklar. Wer jetzt hier geneigt ist, eins und eins zusammenzählen zu wollen, dem kann ich es nicht übelnehmen. 

Auch mal in der eigenen Szene kehren

Es ist vielen von uns vergangenen Sommer vermutlich einfach gefallen auf Rammstein zu zeigen (mit Recht) und zu diagnostizieren: Schaut nur, wie verheerend schief es dort läuft. Aber jetzt ist es an der Zeit, dass wir uns, alle diejenigen, die sich als Akteur*innen in dem Indie-Kosmos verstehen, selbst hinterfragen. Wir müssen uns endlich alle an die eigene Nase packen und fragen, wie wir dazu beitragen, dieses Machtsystem in der Musikindustrie aufrechtzuerhalten – selbst, wenn es nicht unsere Intention ist. Vor allem die männlichen Kollegen unter uns. Natürlich ist es bequemer, sich auf dem “Indie” (was auch immer das in diesem Kontext noch meint) -Status auszuruhen, besonders, wenn man von den Strukturen profitiert, als  wirklich Veränderung anzustoßen. Aber das sind wir jetzt denjenigen schuldig, die diese Branche überhaupt am Laufen halten: den Fans. 

Auch wir und ich als Einzelperson haben in der Vergangenheit über die Bands berichtet, um die es aktuell in der Debatte geht, Interviews mit ihnen geführt und ihnen vielleicht nicht zu mehr Sichtbarkeit verholfen, aber definitiv eine Plattform geboten. Wir wollen uns da nicht aus der Verantwortung nehmen. Es zeigt, dass man sich eben nicht darauf verlassen kann, dass Indie-Bands immer aus korrekten Jungs bestehen, denen man gerne diese Plattform zur Verfügung stellt. Natürlich kann jetzt nicht die Lösung sein, bei jeder Band vom Schlimmsten auszugehen, aber es sollte definitiv auch die Rolle von Medienschaffenden in dem Ganzen reflektiert werden – und da nehmen wir uns nicht raus. Kritische Berichterstattung muss der Konsens sein, auf den wir uns alle einigen können. Trotz Netzwerkpflege, Vitamin B und Medienpartnerschaften.

Mia Morgan hat definitiv einen Punkt, wenn sie unter dem 1LIVE Fragenhagel mit Provinz  – indem die Band auf die Frage „Hand hoch, wer noch nie Sex mit einem Fan hatte?“ nichts mehr als ein schelmisches Grinsen übrig hat – kommentiert, dass sich immer nur Frauen zu Missständen in der Branche äußern müssen und nicht die männlichen Kollegen. Auch das ist ein Privileg. Keine Stellung beziehen zu müssen. Seine eigene Position nicht hinterfragen und einordnen zu müssen. Auch wenn wir als Picky Magazine über diese Bands in der Vergangenheit berichtet haben, ging es immer ausschließlich um ihr künstlerisches Schaffen, nie um ihr Geschlecht. 

Und auch gerade zeigt sich wieder: Es sind vor allem FLINTA-Personen, die in der Debatte laut sind und Konsequenzen fordern. Auf der einen Seite ist das frustrierend, denn sexistische Strukturen können nur gemeinsam überwunden werden. Auf der anderen Seite macht es Mut, dass die Empörung auch seitens der Fans selbst ausgeht, dass sie nicht müde werden, die richtigen Fragen zu stellen. Nur so können wir an dem Gerüst, das auf den Machtstrukturen der Musikbranche erbaut ist, rütteln. Ich würde männlich gelesenen Bands gerne ihre 8. März-Statements abkaufen, aber bitte setzt euch auch an den 364 anderen Tagen im Jahr für mehr Gleichberechtigung in eurer Szene ein, für mehr Sichtbarkeit von weiblichen Musikerinnen, dafür dass eure Crews divers und sensibilisiert sind und geht bei eurer Selbstreflexion auch dorthin, wo es wehtut. Ein ausdrücklicher Wunsch meinerseits: Bitte lasst uns aufhören, Männer für das Bare Minimum zu feiern. Eine kritische Selbstaufarbeitung ist richtig und wichtig, das macht sie aber nicht zu einer Leistung, die in irgendeiner Form honoriert werden sollte. Sie ist das Mindeste. 

Gemeinsam für die Utopie

Und lasst uns verdammt nochmal aufhören, die Verantwortung auf (junge) Frauen abzuwälzen, die es ja besser hätten wissen müssen. Es ist nicht ihre Schuld. Die Indie-Szene war niemals wirklich ein Safe Space, das wissen vor allem von Mehrfach-Diskrimminierung Betroffene schon lange. Der Kampf gegen Machtmissbrauch in der Musikbranche muss daher ein intersektionaler sein, er muss die Perspektive von Betroffenen in den Vordergrund rücken und Bro-Culture eine Absage erteilen. Es ist ein langer Weg. Ich hab es bereits in unserem Jahresrückblick gesagt, ich wiederhole es gerne noch einmal: Es liegt in unser aller Verantwortung, näher an die Utopie heranzukommen, für die wir uns überhaupt einst in die Musikwelt begeben haben. Es reicht nicht, diese Werte zu besingen, sie müssen in jeder Faser gelebt werden.