Die dunkle Welle: NEUNUNDNEUNZIG und Blanche Biau live in Berlin

Alle Bilder im Artikel: Elsa Hädge

Nachdem sie Edwin Rosen auf seiner Tour begleitet und ihr Debütalbum „99 in dein Herz“ veröffentlicht haben, spielten NEUNUNDNEUNZIG nun in der Hauptstadt ein eigenes Konzert. An der Seite von Blanche Biau füllten sie den ausverkauften Schokoladen mit tanzenden Menschen, viel Nebel und Herzblut, bis der Raum vibrierte. Wer aber verbirgt sich hinter dem nostalgischen Sound aus dem Untergrund und warum trifft er so den Nerv der Zeit?

In der deutschsprachigen Musiklandschaft hat sich nun schon seit einer Weile etwas eingeschlichen, von dem man dachte, dass es nicht mehr zum Vorschein käme. Ein Stil, welcher mitsamt der Mauer vor Jahrzehnten in seine Bruchteile zerfiel und prompt von Techno in den Boden getreten wurde. Doch in letzter Zeit fingen Künstler*innen an vereinzelte Splitter auszugraben und neu zusammenzusetzen, die Elektronik der Neunziger im Hinterkopf. In Form von schnellen Synthies, 80ies-Drummachine-Beats und in Melancholie schwimmenden Texten bricht eine neue deutsche Welle über uns herein. Nur ermöglicht die Technik jetzt, dass in den Untiefen von Soundcloud und Spotify überall plötzlich selbstproduzierte Bands auftauchen, von denen man anfangs nicht viel sieht außer ein verwischtes Analogbild im Profil.

Am vergangenen Samstag traten zwei der Vertreter*innen ein bisschen mehr ins Licht, auch wenn dieses dunkelrot und der Raum nebelig war. NEUNUNDNEUNZIG aus Wien, Blanche Biau aus der Schweiz, kamen nach Berlin um im Schokoladen aufzutreten. Dieser zählt zu den wenigen Orten inmitten der Gentrifizierung, an denen alternative Musik eine Bühne bekommt und das Bier noch bezahlbar ist. Alles wirkt wie aus der Zeit gefallen, im besten Sinne. Als ich ankomme, ist schon kaum noch Platz zum Stehen, während Blanche Biau sanft ihre letzte Single „Kette aus Diamanten“ ins Mikrofon singt. Es ist einer der wenigen deutschen Songs der Züricher Solo-Künstlerin, die sich durch ihren Sound in die dunkelsten Ecken des New Wave begibt und Zuhörer*innen mit sich lockt. Unterstützt von Bassist Pippo kreiert sie eine eigene Atmosphäre im Raum. Da ist eine Kühle, die sie ausstrahlt, während sie vor dem Publikum steht – in einem langen Kleid mit Aufdruck der NDW-Band Xmal Deutschland. Ich glaube, jedenfalls hier drin, waren die Achtziger nie zu Ende.

Sobald der letzte Ton des Voracts abebbt, bewegt sich ein Großteil der Menge vor die Tür und neben einer Straßenlaterne erhellen nun glühende Zigaretten die Nacht. Die Stimmung ist heiter, die Bierbänke an der Hauswand voll. Trotz ihrer relativ kurzen Existenz haben NEUNUNDNEUNZIG schon ein Publikum um sich geschart. Kein Wunder, wenn man sich die beiden Bandmitglieder genauer anschaut: Hinter der Zahl verbirgt sich die Freundschaft der Solo-Künstler Nicki Papa und Saiya Tiaw aka. AMANDUS 99 und DANZINGER 99. Klingelt da was? Nein? Dann wird es Zeit. Irgendwo zwischen Underground-Rap und NNDW bohren sich die Musiker ins Herz, wie ihr Albumtitel schon andeutet. Gefühle einer Generation treffend schreiben sie Songs über Schmerz und Exzess, zu denen man in einem verrauchten Keller bis in die Morgenstunden tanzen möchte.

Auch der Schokoladen gerät in Bewegung, als die Gruppe ihren Auftritt beginnt. Nicki Papa breitet die Arme aus um die jubelnde Menge zu begrüßen, die blonden Haare schimmern im Licht. Wie er so in hellem Anzug über die Bühne tanzt hat schon fast etwas David-Byrne-esques an sich. Dagegen bleibt Saiya Tiaw etwas verborgen an seinem Mikrofon stehen, voller Ruhe singt er Songs wie „blaulicht und sirenen“, während der ganze Raum abgeht. Die beiden bilden einen Kontrast in ihrer Performance, der sich besser nicht ergänzen könnte. Sie wechseln gekonnt zwischen gemeinsamen sowie eigenen Liedern und zwischendurch gibt es immer wieder Danksagungen – zum Beispiel an die extra aus dem Burgenland angereisten Eltern. Man merkt, wie viel Wert dieser Abend für die Band hat. Rote Rosen und eine Kasette landen im Publikum.

Am Ende bleibt mehr als ein verwackeltes Analogbild. Das Konzert hat die Künstler*innen und ihr Werk nahbar gemacht, Stimmen aus den Tiefen des Internets ein Gesicht gegeben. NEUNUNDNEUNZIG und Blanche Biau haben sich zwischen den Wänden eines Ortes reich an kultureller Geschichte ihre eigene Welt gebaut, welche Nostalgie und Zeitgeist in einem ist. Wir sehnen uns nach Vergangenem während wir gleichzeitig schwermütig in die Zukunft blicken, also bleibt nicht mehr übrig als sich im Jetzt die Füße zu zertanzen. Die dunkle Welle dafür kommt, glaubt mir, und sie wird unseren Musikgeschmack überschwemmen – das hier war nur der Vorgeschmack.

Hier nochmal zum Reinhören: